Copyright © 2021 Euromaidanpress.com

The work of Euromaidan Press is supported by the International Renaissance Foundation

When referencing our materials, please include an active hyperlink to the Euromaidan Press material and a maximum 500-character extract of the story. To reprint anything longer, written permission must be acquired from [email protected].

Privacy and Cookie Policies.

Wer braucht die Russen in Charkiw? – Insiderbericht eines Einwohners von Charkiw

Quelle (Russisch): FBhttp://vestnikcivitas.ru/pbls/3354
Englisch: http://euromaidanpr.com/2014/04/23/who-needs-russia-in-kharkiv/comment-page-1/

Alle nachfolgenden Fakten sind entscheidend, um verstehen zu können, was in diesen Tagen in Charkiw passiert ist. Alle Informationen beruhen entweder auf meiner persönlichen Erfahrung oder ich habe sie von Augenzeugen und Teilnehmern der Veranstaltungen unmittelbar erhalten.

Es gibt drei Hochschulen in Charkiw, in denen Personal des Ministeriums für Innere Angelegenheiten ausgebildet wird: die “Nationale Juristische Universität der Ukraine Jaroslaw-Mudry” mit ihrer Fakultät für die Ausbildung von Angehörigen der Truppen des Innenministeriums, die “Universität für Innere Angelegenheiten” und die “Hochschule für Streitkräfte des Inneren”. Auf Grund der Verletzung des exterritorialen Prinzips bleibt ein großer Teil der Absolventen entweder für ihr ganzes Leben oder einen dauerhaften Aufenthalt mit Arbeitsplatz in Charkiw. Mit dem ganzen Lehrpersonal, den Studenten und Trainees im Kopf, ist die Dichte von Mitarbeitern des Ministeriums für Innere Angelegenheiten außergewöhnlich hoch, weshalb Charkiw auch den Beinamen “die Stadt der Polizei” bekommen hat.

Die beschriebene Situation hat einen völligen Mangel an gerichtlicher Verantwortlichkeit mit sich gebracht (noblesse oblige!), dies wiederum führte zu einer riesigen Korruptionsrate. Kein Absolvent der Nationalen Juristischen Universität ist in der Lage, eine Prüfung ohne Bestechung der Verwaltung anzutreten, unabhängig von der Tatsache, dass die meisten Schüler entweder aus Promi-Familien stammen oder vom Innenministerium selbst in die Institution abgeordnet wurden. Die Korruption hat zur Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der Mafia geführt. Derzeit steht das Innenministerium in unnmittelbarer Zusammenarbeit mit den korrupten Zoll- und Grenzstellen und “pflegt” und überwacht die folgende Schattenwirtschaften: Drogenhandel über die Grenze mit Russland, den Drogenvertrieb, Schmuggel von in Russland hergestellten Zigaretten, Herstellung und Vertrieb von hausgemachtem und gepanschtem Wodka, Untergrundglücksspiel; sie verstecken sich als Online-Glücksspiele-Betreiber in Internet-Cafés, und “schützen” nicht registrierte Privatunternehmen in den Außenbezirken der Stadt.

Ein wesentlicher Teil der Arbeitszeit der Offiziere des ukrainischen Sicherheitsdienstes geht für private Unternehmungen drauf, die oft (aber nicht immer) völlig legal sind. Das löst sicher das Problem beim Renteneintritt für die Beamten. Insbesondere der beeindruckende Nachtclub “Misto”, dessen Eleganz sogar einen Moskauer Bürger beeindrucken könnte, wird seit den 1990-er Jahren von der Abteilung für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität (DCOC) geschützt und betrieben. Diese Tatsache habe ich eines Tages “vertraulich” von einem Offizier im Laufe eines freundlichen Gesprächs bei einem Business-Lunch in dem Club erfahren, als ich ihn gebeten hatte, mir bei der Lösung eines persönlichen Problems zu helfen.

Der ehemalige Gouverneur der Region Charkiw, der derzeit für die Präsidentschaft kandidiert (!), Michail Dobkin, begann seine Karriere mit illegalen Geschäften. Der Bürgermeister von Charkiw, Gennadiy Kernes, war in den 90-er Jahren ein Reifenhändler, und er benutzt immer noch kriminelle Methoden, um Ungehorsame in die Unterwerfung zu zwingen. Die Fakten, die ich nenne, sollen keine Anklage eines bestimmten Verbrechens sein – eher sollen sie dem Leser einen besseren Eindruck von der Denkweise und Mentalität in den Behörden der Charkiw von heutzutage vermitteln. Das heißt aber auch, dass diese Tatsachen nichts mit den Führungsqualitäten der oben genannten Personen zu tun haben. Persönlich werde ich auf jeden Fall bei den Wahlen des nächsten Bürgermeisters für Kernes stimmen, denn er hat Straßen gebaut, Grünflächen angelegt, Kathedralen, Museen und Märkte nach europäischen Normen, errichtet – nicht zu verschweigen das Stadion, den Flughafen, und den größte Weihnachtsbaum in Europa. Kommen Sie und besuchen Sie die Stadt – wir müssen uns nicht mehr schämen! So viel er gestohlen haben könnte, andere Bürgermeister haben alles oder fast alles gestohlen.

Die Kampfsportgruppe “Oplot” (“Verteidigung”) wurde von Ewgenij Zhilin gegründet, einem ehemaligen Offizier der [Korruptionsbekämpfungpolizei] DCOC, der aufgrund einiger ungelöster Kriminalfälle nach Einstellung der Ermittlungen entlassen worden war. Der Club ist spezialisiert auf Käfig-Kämpfe. Die “Oplot” initiierte und organisierte Käfig-Kampf-Meisterschaften bereits zu Zeiten der ehemaligen UdSSR! Die Meisterschaften haben seitdem durchgehend stattgefunden (Ich war zu Beginn des Jahres bei der letzten anwesend). Einige Offiziere aus der Sonderpolizei Russlands bzw. anderer ehemaligen UdSSR-Republiken waren aktive Teilnehmer der Meisterschaften, die “Oplot”-Kämpfer schnitten in den Rankings durchweg sehr gut ab. Der Club selbst ist nur die Spitze des Eisbergs, seine “Untergrund”-Betätigung läuft so, dass sie legale Geschäftstätigkeiten begleiten aber auch den verbrecherischen Befehlen der regionalen Behörden und der Beamten des Ministeriums des Innern (sic!) erfüllen, wie Überfälle gegen erfolgreiche Unternehmen, “Ungehorsame” zu ruinieren, Schutzgelderpressung und dergleichen mehr. “Oplot”-Kämpfer wurden von Michail Dobkin ausgerüstet und nach Kyiw geschickt, um gegen Maidan-Demonstranten zu kämpfen. Die Jungs attackierten die Demonstranten und deren Sympathisanten, gelegentlich auch Passanten, und sie fackelten die Fahrzeuge von Auto-Maidan-Teilnehmern ab. Meiner Meinung nach sind die “Oplot” die effektivste Banditenorganisation der Ukraine, da nur sehr wenige sich diesen professionellen Kämpfern widersetzen können. Eine strafrechtliche Verfolgung gegen Zhilin begann nach dem Sieg des Maidan, seine Büros wurden durchsucht, Dokumente beschlagnahmt, und er floh – aber die Kämpfer sind geblieben.

Das letzte Mal sah ich Zhilin bei der separatistischen Konferenz der Süd-Ost-Regionen und der Behörden der grenznahen russischen Regionen am 22. Februar. Später in der Nacht spielten die “Oplot” unerwarteterweise eine “positive” Rolle beim Wegfahren der Maidan-Sympathisanten, die im Begriff waren, das Lenin-Denkmal auf dem Swoboda-Platz abzureißen. Nach dem Kampf versteckten sich die Maidan-Anführer im Gebäude der Regionalverwaltung, das sie seit einer Woche besetzt hielten, bis am folgenden Samstag der berüchtigte blutige Überfall stattfand Es muss jedoch angemerkt werden, dass “Oplot” nicht an dem Blutbad beteiligt waren, das von Russen organisiert wurde. Ich war “zufällig” Augenzeuge der Ereignisse, weil ich gerade mit meiner kleinen Tochter auf dem Platz spazieren ging. Ich sah, wie ein Mann aus Moskau die russische Trikolore-Fahne auf dem Dach der Regionalregierung von Charkiw hisste. Ich sah das “Sieges”-Feuerwerk . Ich sah verwundete und übel zugerichtete Menschen – und eine enorme Anzahl von Polizisten und der Streitkräfte des Innenministeriums einfach nur dastehen und beobachten. Als alles fertig war, betrat die Polizei einfach das Gebäude und tat so, als ob sie es “befreit” hätte.

Es gibt in der Tat in Charkiw im Moment drei politische Kräfte:
• Die Maidan-Befürworter, Patrioten, sich für die ukrainischen nationalen Ideen und eine ungeteilte, einheitliche Ukraine einsetzen.
• Charkiwer Bürger – einfache Menschen, die gegen den Import der Revolution und des Extremismus sind, aber sie lieben ihre Stadt und sind eifrig bei ihrer Arbeit, ihre Geschäfte – und sie mögen weder die extremistischen Jungs, Hakenkreuz-Schmiereien, zertrampelte Blumenbeete, Winken mit rot-schwarzen Fahnen, noch mögen sie brennende Reifen, eingeschlagene Schaufenster und die Störung des friedlichen Lebensablauf in der geschäftigen Stadt.
• Pro-russische Separatisten – FBS-Vertreter bereiten die Köpfe der Menschen auf ein Krim-Szenario vor, gerade auch einige Bewohner der umliegenden kleineren Städte, die noch nicht wissen, dass ein halber Liter Wodka in Russland 240 Rubel kostet und nicht nach 22 Uhr gekauft werden kann, und die auch noch nicht wissen, dass man einen russischen Polizisten nicht “Bulle” nennen darf, oder man findet sich in der Haft mit einigen fehlenden Zähnen wieder. Und die Tatsache, dass die Verkehrspolizei in Russland die absolute Macht hat – und erst recht wissen sie nichts von der Existenz von mindestens sieben Parteien von der Art des “Rechten Sektors” und deren Ideologie des russischen nationalen Chauvinismus in einer Vielzahl von Farbtönen. Einige Rentner gehören sicher auch zu dieser Kategorie, da sie glauben, sie bekämen russische Renten, wenn sie Teil von Russland werden.

Auf dem Höhepunkt ihrer revolutionären Erhebung haben die Maidan-Leute in Charkiw zwischen dem 22. und 30. März ein paar Dummheiten gemacht. Doch nachdem sie von Charkiwern “instruiert” wurden, wurden aus ihnen ganz anständige Bürger, sie veranstalten Vorlesungen über die Geschichte und Kultur der Ukraine und klären die Menschen auf über Persönlichkeiten der Region Charkiw. Obwohl Bandera und Schuchewitsch nicht gerade die Helden der Bevölkerung der Ost-Ukraine sind, sehe ich immer noch nichts falsches an der Förderung der ukrainischen nationalen Idee bei den Bürgern der Ukraine, so lange es keinen Extremismus darstellt.

Die Charkiwer standen am 22. Februar auf – alle auf einmal und informell. Dobkin und Kernes haben aufgefordert, die schwarz-orange gestreiften Georgsbänder als Zeichen der Unterscheidung zu tragen. Doch gab es dabei keine russische Fahnen. Am 23. Februar trat ich neben dem Lenin-Denkmal ihren Reihen bei: Ich habe mich eingeschrieben und ging in die Garage, um meine Ausrüstsung und eine Titan-Brechstange zu holen, überprüfte meine Gaspistole: man soll mit Charkiwern nicht scherzen! Dies umso mehr, als die demoralisierten Polizisten aus der Westukraine gerade ihre Waffen und Maschinen an den “Rechten Sektor” abgegeben hatten – kein Wunder, dass wir besorgt waren. Einige Varianten der Mobilisierung wurden bereits diskutiert. Wohlgemerkt – es gibt mehr Waffen als Menschen hier! Doch das alles hat sich bald beruhigt. Das Lenin-Denkmal hat überlebt. Die Waffen wurden an die Polizeitruppen des Innenministeriums abgegeben (okay, es könnte doch noch ein paar irgendwo übrig sein …). Aber ein neues Problem kam.

Russische Flaggen tauchten zum ersten Mal am 25. Februar bei der Charkiwer Bürgerversammlung aus Protest gegen das von Maidan-Menschen besetzte Regionalparlament auf. Ich wandte mich höflich an die Personen mit solchen Flaggen und fragte sie nach den Gründen, warum sie da waren, worauf sie antworteten, sie seien Charkiwer und stünden für Russisch als Regionalsprache und gegen den Bandera-Chauvinismus. Obwohl ich ihnen nicht wirklich glaubte, denn für mich sah das alles ziemlich verdächtig aus (wie zum Beispiel die teuren Carbon-Fahnenmasten, die sie hatten) habe ich mich dann doch entschieden, keine Probleme zu suchen. Die “Charkiwer” Leute waren friedlich, und das Treffen bestand hauptsächlich aus Männern mittleren Alters, während die Maidan-Menschen meist jünger waren. Uns war klar, dass wir 20 Minuten gebraucht hätten, um jegliche Gewalt zu stoppen – aber warum sollten wir überhaupt Blut vergießen?

Inzwischen ist die Zahl der russischen Fahnen gewachsen. Das führte dann zum Blutbad am 30. März, zu dem Mann aus Moskau auf dem Dach der Charkiwer Regionalverwaltung (was zum Teufel machte er da?) und zu den Bussen mit russischen Nummernschildern in der ganzen Stadt. Doch folgte die Situation noch nicht dem Krim-Szenario. Die Bürger von Charkiw sind KEINE Bürger von Russland. Diese Stadt steht bereits jetzt aufs Freundlichste mit Belgorod – die Russen kommen, um in Charkiw zu Arzt zu gehen, kommen zum Ausruhen, ihre Autos reparieren zu lassen und im riesigen Barabaschow-Markt Kleidung zu kaufen, während die Charkiwer nach Belgorod pendeln, um zu tanken und und ihren Geschäften nachzugehen. Wir halten die Grenze aber für wichtig und nützlich! Leider stimmen unsere Wünsche an dieser Stelle nicht mit den Wünschen von Herrn Putin überein.
————————–
Was geschah am Sonntag, den 6. April? Alles war wie üblich, “sonntäglich” halt. Unter der Woche ist jedermann beschäftigt mit der Arbeit, während am Samstag und Sonntag die Menschen ganz leicht dazu bewegt werden können, auf den Platz zu kommen! Wie üblich gab es die Ukrainer, sie hielten ihre gelb-blauen Flaggen (und das ist in Ordnung, da sie ja in ihrer Heimatstadt Charkiw, Ukraine, waren) und ihre Gegner – Separatisten (ich habe ihre Kundgebung als solche eingeordnet, weil die Flaggen, mit denen sie winken, sowohl russische als auch die schwarz-gelb-weißen, die Flaggen des Russischen Zarenreichs waren).

Die Situation war in keiner Weise angespannt, und die Leute wollten keinen Ärger. Dann begannen aber die Separatisten eine Auseinandersetzung mit ukrainischen Patrioten. Ich nahm nicht an der Veranstaltung teil, weil ich nicht geglaubt hatte, dass die Demonstration meine Aufmerksamkeit wert war. Aber ich lag falsch: in Donezk und Luhansk hatten sich die Ereignisse zugespitzt, und das befeuerte die pro-russischen Separatisten in Charkiw zum Angriff.

Ich schaute die Abendnachrichten und erfuhr überrascht, dass das pro-russische Treffen das Gebäude des Regionalrates beschlagnahmt hatte! Das war etwa um 22.00 Uhr. Um 4 Uhr morgens nahm ich ein Taxi, um nachzusehen, was da los war. Die Fernsehmoderatoren hatten behauptet, etwa 2000 Demonstranten seien auf dem Platz. Das war schwer zu glauben, denn in der Nacht gab es nicht mehr als Tausend oder noch weniger, nur ein paar Dutzend am Eingang und wahrscheinlich über Hundert noch drinnen. Der Eingang zum Gebäude war absolut frei zugänglich, Polizisten und Demonstranten standen Seite an Seite – kein Kampfgeist, nur Erschöpfung nach einem harten Tag. Später sagte mir jemand, dass die Anzahl der Polizisten etwa gleich groß war wie die Anzahl der Angreifer und dass sie eine Show abgezogen haben, anstatt zu versuchen, die Separatisten daran zu hindern, in das Innere des Gebäudes einzudringen. Ich kann es nicht beweisen, da ich nicht Augenzeuge des Ereignisses war. Allerdings GAB es eine Belagerung und es GAB KEINE Verteidigung. Es gab Kaffee, Zigaretten und eine Barrikade aus Reifen und ein paar kaputten Möbeln vor dem Eingang. Ich sah das mit meinen eigenen Augen.

Am Morgen traf ich einen älteren Offizier der Spionageabwehr des Sicherheitsrates der Ukraine und hab ihn gefragt: Was halten Sie von unsere Chancen, wenn die Russen mit Jagdfliegern und Panzern kommen, und wie wahrscheinlich ist das? Immerhin hatten sie das Bild für das Fernsehen ja bereits gemacht, so dass die Russen etwas hatten, um der ganze Welt zu zeigen, dass sie nun berechtigt sind, “ihren russischen Brüdern aus Charkiw, Donezk und Luhansk, die auf den Knien liegen, eine helfende Hand zu reichen.” Er fing an, alle möglichen Szenarien zu beschreiben, aber alle Szenarien gingen davon aus, dass sie es auf jeden Fall tun werden! Er sagte das so, als ob er über einen Ausbildungseinsatz diskutierte, ohne irgendwelche Emotionen. Ich fragte ihn: “Was ist mit dir?” Und er sagte mir: “Was soll mit mir sein? Wir sind Soldaten, wir tun, was uns gesagt wird.” (Er hat ein eigenes Geschäft, und ich bezweifle, dass er sich beeilen würde, um mit den Leuten vom FSB (russischer Föderaler Sicherheitsdienst) zu kämpfen). Und dann kommt dieser “Shmuck” [Anm. d. Übers.: jiddisches Schimpfwort für “Idiot” – wörtlich Penis] in Luhansk, der von sich selbst behauptet, er sei von der Luhansker Bürgerwehr, mit einer Maske auf dem Kopf, und bittet den Präsidenten von Russland um Hilfe! Sie haben es alle wahrscheinlich gesehen.

Um 18 Uhr ging ich direkt nach der Arbeit auf den Platz, um einen Blick auf die” Ukrainer” zu werfen – friedliche Atmosphäre, Absingen der Nationalhymne, Rufe wie “Koffer – Bahnhof – Russland!” gerichtet an diejenigen, die im Regierungsgebäude sind. Der Verkehr vor dem Gebäude ist gesperrt. Die Polizisten stehen in einer etwa 30 Meter langen Reihe, sie trennen die gegnerischen Ideologien voneinander. Einige Bastarde von der russischen Seite werfen mit Sprengstoff, eines der Geschosse erlischt nur einen Meter von mir entfernt. Ich wurde von meinem Handy-Headset gerettet. Ich hätte sogar eine heftige Prellung davon kriegen können! Inzwischen machte die Gegenseite mit Schreien weiter : «Russland! Russland!” und dem Abspielen des Liedes “Die Russen kommen durch die Dunkelheit der heidnischen Zeiten.” Die pro-ukrainischen Maidan-Menschen hatten keine Waffen, mit Ausnahme von Nationalflagge und Blütenkränzen auf den Köpfen der ukrainischen Mädchen! Ich schwöre es! Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich ins pro-russische Lager. Alle Menschen trugen Georgsbänder in einer Vielzahl von Ausführungen wie Armbinden oder Haarschmuck. Und sobald ich auf der anderen Seite der Straße (an der Kreuzung der Straßen Iwanowa und Sumskaja) ankam, sah ich eine Gruppe von Bewaffneten in Tarn-Uniformen und Trainingsanzügen sich bereit machen. Waffen (in absteigender Reihenfolge der Beliebtheit): Schaufelstiele, in drei Stücke zersägt mit Schlaufen aus Klebestreifen, damit sie nicht aus der Hand rutschen; Moniereisen mit weißem oder farbigem Klebeband umwickelt; Staubsaugerrohre aus Stahl und mehrere Baseballschläger. Es gab auch einige traumatische Waffen. Alle von ihnen trugen Masken mit Schlitzen für Augen, kugelsichere Westen mit dem Logo “UVB” in der Mitte ( das Logo der Streitkräfte für Innere Sicherheit), Knie- und Ellenbogenschützer. Es waren da etwa 100 Kämpfer zusammen mit den Zugführern, die “Oplot”-Kämpfer waren. Diese kann man sofort erkennen aufgrund ihres typischen Körperbaus! Ein Polizeihauptmann nahm einen weiteren Schaufelstiel und zeigte einem der Kämpfer, wie man ihn mit Hilfe von Klebeband in der Hand fixiert.

Und dann fängt die Menge einen Angriff gegen die Ukrainer an. Zum Glück hatten letztere die Gefahr gerade noch rechtzeitig bemerkt. Jemand muss sie gewarnt haben, denn sie rannten einen Augenblick vor Beginn des Angriffs weg. Das Blutbad bleibt aus, die Militanten nehmen den menschenleeren Platz ein, und mit Stolz erhobenen Köpfen gehen sie durch anwesenden pro-russischen Sympathisanten, die “Gut gemacht!” schrien. Die Polizei blieb völlig ruhig.

Dann fühlte ich mich, als ob ich berauscht sei. Ich ging zum Eingang des Gebäudes, wo ich einen Blick ins Innere werfen konnte. Durch eine offene Tür im Foyer sah ich Kämpfer in Uniform und Helm und den Mann, der am 25. Februar eine russische Flagge auf dem Platz gehisst hatte. Ich erkannte ihn sofort, wie viele andere auch, alle Gesichter genau dieselben wie damals! Nach der Krim-Szenario sollten sie die Abgeordneten der Regionalversammlung zusammentrommeln, so dass die “berechtigten” regionalen Gebietskörperschaften eine schicksalhafte Entscheidung treffen sollten über die Souveränität der Region und die Schaffung Charkiwer Republik, die dann Putin um militärische Hilfe bitten würde. Jagdflieger und Panzer würden folgen. Aber die Abgeordneten sind keine Idioten, noch nicht einmal alle Kommunisten erschienen. Daher wählten sie neue regionale Abgeordnete. Das heißt, rund 1000 Menschen, unter der Führung des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes, entschieden über das Schicksal der Stadt und ihrer Region mit der Bevölkerung von über 3,5 Millionen Menschen! Zwei Stunden lang war ich ein Bürger der Volksrepublik Charkiw! Ich war sowas von stolz! Der Termin für das Referendum sollte am nächsten Tag beschlossen werden. Aber – was ist mit der monarchischen Fahne? Ich habe diese dumme Frage gestellt und eine Antwort erhalten: Putin ist ein Monarch! Was das Fehlen eines Stammbaum angeht, kein Problem, wir leben im 21. Jahrhundert! Was zählt, ist die absolute Macht!

In der Morgendämmerung begannen die von Innenminister Awakow entsandten Nationalen Sondereinsatztruppen einen Blitzangriff auf das Gebäude des Regionalrates. Es dauerte nur 18 Minuten. In seinem Interview hat Awakow es versäumt, das Verhalten des Militärs in Charkiw eindeutig zu kommentieren, obwohl er anscheinend das Wort” Sabotage” ausgesprochen hat. Er kann wohl einfach nicht an ein solches Ausmaß von Verrat glauben! Niemand konnte das. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte! Als ich das sah, konnte ich kaum glauben, dass es wirklich geschieht, aber ich habe es irgendwie geschafft, mich davon zu überzeugen zu lassen, meinen eigenen Augen zu vertrauen.

Ich nehme mir die Freiheit, das Geschehen so zu kommentierren: Die ganze Affäre hat nichts Politik zu tun. Das Ganze dreht sich nur darum, das riesige regionale Netz der Schattenwirtschaft der Polizei zu verdecken! Niemand braucht eine neue reformorientierte Regierung, die die gesamte Mafia zerstören könnte. Daher halten sie ein Krim-Szenario für den logischsten Weg, um ihre bevorstehende Katastrophe zu vermeiden. Alle verfügbaren Ressourcen wurden verwendet: Unterstützung der gewalttätigen Demonstranten und die komplette Sabotage der Pflichten der Strafverfolgungsbehörden. Als Ergebnis wurden dabei friedliche Bürger schwer verprügelt und öffentliches Eigentum beschädigt.

Ich bin absolut sicher, dass das Krim-Szenario in Charkiw fehlgeschlagen ist. Allerdings sollte ich zugeben, dass es schon reichlich pro-russisch gesinnte Menschen unter den Einwohnern von Charkiw gibt, obwohl es sich dabei mehr ‘Stammtischgespräche” und nicht um reale Aktionen handelt, denn die Leute sind mit ihren Geschäften und Arbeitsplätzen beschäftigt. Keiner von ihnen wird auf den Platz kommen, um einen Standpunkt zu verteidigen! Dies sind vor allem diejenigen, die vom russischen Fernsehen der Gehirnwäsche unterzogen worden sind.

Meine Eltern leben in Poltawa, wo der “Rechte Sektor” und die “Swoboda”-Partei schon immer einen großen Einfluss hatten: beide haben ihren Hauptsitz dort. Meine Mutter ist Russin und spricht überall Russisch. Meine Schwestern auch. Mein älterer Sohn geht in eine russische Klasse, während das jüngere Kind eine ukrainische besucht, so dass sie ihr Wissen teilen können. Die Russen wurden komplett von den russischen Medien einer Gehirnwäsche unterzogen, und man muss sehr intelligent sein, um die Lügen herauszufiltern und die Informationen zu finden, auf die man sich verlassen kann. Aber das muss man auch tun, sonst führen falsche Schlussfolgerungen zu falschen Handlungen, und die Folgen könnten für alle katastrophal sein.

Der Taxifahrer, der mich in der Nacht auf den Platz fuhr, sagte, dass er ein Russe sei, aber wenn Putins Truppen einmarschieren, wird er eine Kalaschnikow nehmen und sich den Partisanen anschließen. Welches Recht haben sie, hier mit Gewehren und Panzern herzukommen? Wir haben genug gesehen in Südossetien, Suchumi und Transnistrien.

Der Systemadministrator eines legalen Unternehmens in Charkiw, ein alter Freund von mir, ein recht ausgeglichener Mensch, hat mir gesagt, dass, wenn er eine Waffe nehmen müsste, würde er es tun und sein Leben nur mit hohen Kosten hergeben! Er erkennt an, dass Russlands technologische Überlegenheit in der Rüstung erheblich ist, aber er will nicht wie auf der Krim leben!

Ein anderer Freund von mir, Vorstandvorsitzender einer der führenden Banken, ein Mann, der definitiv nicht arm ist, sagte mir das gleiche wie der Taxifahrer. Er sagte, dass das hier nicht wie auf der Krim funktioniert. “Die Russen sollten das besser verstehen, vor allem ihr Chef.”

Es geht nicht alles glatt in Donezk und Luhansk. Aber die Hauptsache ist, dass alles, was dort passiert, eine Inszenierung ist, und ihr Regisseur ist der [russische] Bundessicherheitsdienst. Die Frage ist nur, ob die Menschen dieser Inszenierung glauben.

An diesem Samstag, dem 12. April, gingen das gleiche kleine Mädchen und ich nach dem Unterricht zum Palast der Pioniere und in den Zoo. Wer Charkiw noch nie besucht hat, sollte wissen, dass der Freiheitsplatz (ehemaliger Dserschinski-Platz) direkt in der Nähe der Charkiwer Regionalverwaltung, der Staatsuniversität, des Zoo und des Schewtschenko-Parks liegt.

In Wirklichkeit sind die Charkiwer ganz friedlich. Wir gehen normalerweise nicht auf den Platz und habenStahlstangen dabei. Das kann nur von speziell ausgebildeten, organisierten und (zumindest teilweise) bezahlten Leuten gemacht werden. Stellen wir uns vor, ich wäre ein politisch aktiver Bürger. Ich habe mich mit meinen Freunden verabredet, um zu einem Treffen zu gehen, bei dem wir Flaggen schwenken, um diejenigen, die zu Hause bleiben, aufmerksam zu machen. In diesem Fall bin ich ein friedlicher Demonstrant. Aber wenn ich einen Baseballschläger und besondere Schutzausrüstung (Körperpanzer, Knieschützer, Ellenbogenschützer, Helm) mitnehme und eine Gesichtsmaske aufsetze, damit ich den Befehl erfüllen kann, friedliche Demonstranten und diejenigen zu schlagen, die einfach zufällig in der Nähe sind (denn wer kann schon sagen, ob es sich um einen Demonstranten oder einfach einen Spaziergänger im Park handelt), was bin ich dann?

Der Internationale Marathon fand am 12. April statt. Die Ziellinie war auf dem Platz der Freiheit. Der Veranstaltung folgte ein Konzert. Trotz der Vielzahl von Polizeieinheiten und Kadetten war die Atmosphäre insgesamt sehr festlich. Als wir da einen Spaziergang machten, sammelten sich Menschen an zwei verschiedenen Orten: die pro-Russland strömten rund um das Lenin-Denkmal zusammen, während die anderen, die Unterstützung für den Maidan und die Ukraine zeigen wollten, das Denkmal für Schewtschenko umgaben. Die Maidan-Menschen hielten ukrainische Fahnen, wohingegen die Separatisten die dreifarbige russische Fahne und die Flaggender Süd-Ost-Republik zeigten. Die Samstagabende in Charkiw sind anscheinend immer angenehm: jeden Samstag genau das Gleiche!

Allerdings, die Samstag sind immer gut zu Ende gegangen, ohne nennenswerte Ereignisse. Alles andere geschieht am Sonntag. Die Demonstration der Separatisten erreichte ihren Siedepunkt, und sie benutzten, was sie mitgebracht hatten, und fingen an, die Maidan-Befürworter zu schlagen. Die Kundgebung am Schewtschenko-Denkmal war bereits vorbei (Das geschah nicht zum ersten Mal. Offenbar alarmiert jemand die Menschen per Telefon, wenn die Separatisten sich anschicken, sie anzugreifen). Aber dieses Mal entschieden sich die Separatisten, diese Mal aufs Ganze zu gehen. Sie jagten Menschen wie Hasen, fingen sie in der U-Bahn und schlugen sie zusammen. Frauen mit Georgsbändern am Ärmel (die gleichen, die am Montag Abend “gut gemacht!” geschrien haben) wurden zu Furien und traten auf dem Boden liegende Opfer. Mindestens 50 Demonstranten wurden schwer verletzt. Ich sah das im Internet, aber von vielen Freunden weiß ich, dass es Tatsache ist.

Danach ging die Masse zum Regionalparlament, um es einzunehmen. Später zogen sie zum Gefängnis, wo 66 Menschen wegen des Vorwurfs der Teilnahme an der Besetzung der Charkiwer Regionalverwaltung festgehalten wurden. Es war Pech, denn sie waren bereits nach Poltawa verlegt worden! Die Besetzung ist fehlgeschlagen…

Als ich am Montag arbeiten ging, waren die Straßen bereits gereinigt, die Stadtverwaltung war aktiv. Nur noch die verletzten Menschen in Krankenhäusern erinnerten an die Ereignisse des Vortages.

Wer sind diese Leute mit Georgsbändern an den Ärmeln: Jetzt kann ich getrost meine eigene rhetorische Frage beantworten? Sie sind sicherlich Verbrecher aber keine friedlichen Demonstranten! Die Polizei verübt Sabotage. Unter denjenigen, die Jagd auf Menschen machten, bemerkte ich einen übergewichtigen Mann mit einer Jacke, wie von der Uniform der Verkehrspolizeibeamten. Nun, warum sollte man nicht etwas Geld dazu verdienen und Spaß haben?

Die Charkiwer hatten selber Georgbänder getragen, aber je mehr nach dem 25. Februar weitere dreifarbige Banner auf dem Platz auftauchten, desto unterschiedlicher wurde die mit ihnen verbundene Bedeutung.
Während der Kundgebungen am 22. und 23. Februar standen völlig unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Gesichtern auf dem Dserschinski-Platz! Sie (wie auch ich) waren bereit, zu verteidigen, was uns gehörte: das Denkmal, die Stadt, und Ordnung. Aber keiner von uns konnte sich vorstellen, andere Menschen anzugreifen, nur so, aus Hass, und gleichzeitig zu skandieren: “Russland! Russland!”

In den Jahren 2010, 2011, 2012 bzw. 2013 (ich habe im Jahr 2010 begonnen, mir das aufzuschreiben, seitdem nehme ich an den Militärparaden am 9. Mai teil) haben die Charkiwer am Vorabend des Siegestags Georgsbänder auf ihre Kleider genäht und an den Autos befestigt. Jetzt sagt mir mein 14-jähriger Sohn, dass er so etwas nie wieder tragen werde! Diese Bastarde auf dem Platz, die die Meinung der übrigen 3,5 Millionen Einwohner von Charkiw und Umgebung zu äußern wagen, sind ein Geschwür auf dem Leib der Region Charkiw; sie haben das Symbol des Sieges einfach in den Dreck gezogen, auch in den Augen der Kinder!

Haben Sie noch Fragen, wer in Charkiw Russland braucht? Das ist eine rein ukrainische Stadt, die Heimat von Kwitka-Osnowjanenko (ein Ortsteil der Stadt ist nach ihm benannt “Osnowa”) und Grigorij Skoworoda (Skoworodyniwka), wo das Denkmal für den legendären Kosaken Charko steht, des Gründers der Stadt, ganz in der Nähe des Dserschinski- (Swoboda- oder Freiheits-) Platzes, am Anfang der Leninallee. Und – gehe ich damit zu weit, wenn ich daran erinnere, dass Belgorod, das jetzt in Russland liegt, Teil der Sloboda-Ukraine war?

Während ich den Artikel schreibe, schaue ich gerade unseren nationalen 5. Kanal im Fernsehen und sehe die Ereignisse in Slowjansk, Kramatorsk und Donezk. Es ist eine komplette Wiederholung der Inszenierungen wie auf der Krim! Bullen, wie in Charkiw, die sich den russischen Geheimagenten unterstellt haben, bezeichnen sich selbst als Milizeinheiten und versuchen nicht einmal, ihre Gesichter oder militärischen Ränge zu verstecken. Ich bete zu Gott, dass unsere Regierung endlich den Einsatz der Truppen veranlasst. Wenn wir weiter nichts tun, werden wir die Ukraine verlieren!

Ich bekam am Montag einen Anruf von Büro der Einberufung zum Militär. Wenn ich eine Waffe bekomme, bin ich bereit zu schießen. Wenn Sie das dies lesen, sind Sie dann entsetzt? Aber was soll ich tun?

You could close this page. Or you could join our community and help us produce more materials like this.  We keep our reporting open and accessible to everyone because we believe in the power of free information. This is why our small, cost-effective team depends on the support of readers like you to bring deliver timely news, quality analysis, and on-the-ground reports about Russia's war against Ukraine and Ukraine's struggle to build a democratic society. A little bit goes a long way: for as little as the cost of one cup of coffee a month, you can help build bridges between Ukraine and the rest of the world, plus become a co-creator and vote for topics we should cover next. Become a patron or see other ways to support. Become a Patron!
Total
0
Shares
Related Posts