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Timothy Snyder: Die Schlacht in der Ukraine kann alles bedeuten

Timothy Snyder: Die Schlacht in der Ukraine kann alles bedeuten
Sergey Ponomarev/The New York Times/Redux – Titelseite der “New Republic”

Übersetzung aus dem Englischen. Erschienen am 11. Mai 2014 in “New Republic”.

Timothy Snyder ist Housum-Professor für Geschichte an der Yale-Universität und Autor des Buches “Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin”. Zusammen mit Leon Wieseltier bereitet er einen Kongress der internationalen und ukrainischen Intellektuellen vom 16. bis 19. Mai in Kyiw vor unter dem Motto: “Ukraine: Zusammen überlegen”. Dieses Essay ist eine Überarbeitung eines früheren Artikels, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.

Wir vergessen allzu leicht, wie der Faschismus funktioniert: als eine helle und glänzende Alternative zu den weltlichen Aufgaben des Alltags, als Lobhudelei des offensichtlich völlig Irrationalen und gegen den gesunden Menschenverstand und die Erfahrung. Der Faschismus verfügt über Soldaten, die nicht aussehen wie Soldaten, über eine Gleichgültigkeit gegenüber den Gesetzen des Krieges in ihrer Anwendung gegen als minderwertig angesehene Menschen, über die Feier eines “Imperiums” nach kontraproduktiven Landnahmen. Faschismus bedeutet die Feier der nackten männlichen Gestalt, eine Obsession bezüglich der Homosexualität, die gleichzeitig kriminalisiert und nachgeahmt wird. Faschismus lehnt Liberalismus und Demokratie als Schein-Formen des Individualismus ab, besteht auf dem kollektiven Wille über die individuelle Auswahl und fetischisiert die glorreiche Tat. Da der Tat ist alles, und das Wort ist nichts, sind Worte nur deswegen vorhanden, um Taten möglich zu machen, und sie dann zu Mythen von ihnen zu machen. Eine Wahrheit kann es nicht geben, und deswegen ist Geschichte nichts anderes als eine politische Ressource. Hitler konnte vom Heiligen Paulus als seinen Feind sprechen, Mussolini konnte die römischen Kaiser verdammen. Siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir vergessen, wie attraktiv das alles einmal für die Europäer war, und dass in Wirklichkeit nur eine Niederlage im Krieg es diskreditiert hat. Heute sind diese Ideen in Russland auf dem Vormarsch, einem Land, das seine historische Politik rund um den sowjetischen Sieg in diesem Krieg organisiert hat, und der russische Sirenengesang hat eine seltsame Anziehungskraft in Deutschland, dem besiegten Land, das angeblich daraus gelernt hat.

Die pluralistische Revolution in der Ukraine bedeutete eine schockierende Niederlage für Moskau, und Moskau hat im Gegenzug einen Angriff auf die europäische Geschichte gestartet. Selbst wenn die Europäer alarmiert oder fasziniert die Ausbreitung der russischen Spezialkräfte von der Krim nach Donezk und Luhansk folgen, versuchen Wladimir Putins Propagandisten, die Europäer in eine alternative Realität zu ziehen, eine Darstellung der Geschichte, die völlig anders aussieht, als die meisten Ukrainer denken, ja, als die Beweislage hergibt. Die Ukraine hat in der Geschichte noch nie existiert, heißt die Behauptung, und wenn dann nur als Teil eines russischen Reiches. Die Ukrainer gibt es nicht als Volk; bestenfalls sind sie Kleinrussen. Aber wenn die Ukraine und Ukrainer schon nicht vorhanden sind, dann gibt es auch kein Europa oder Europäer. Wenn die Ukraine aus der Geschichte verschwindet, dann verschwindet auch der Schauplatz der größten Verbrechen sowohl des nationalsozialistischen als auch des stalinistischen Regimes. Wenn die Ukraine keine Vergangenheit hat, dann hat Hitler nie versucht, ein Reich zu bilden, und Stalin hat niemals Terror durch Hunger ausgeübt.

Die Ukraine hat natürlich eine Geschichte. Das Gebiet der heutigen Ukraine kann sehr leicht in jeder wichtigen Epoche der europäischen Vergangenheit identifiziert werden. Die Kyiwer Geschichte der Staatlichkeit im slawischen Osten beginnt in Kyiw vor einem Jahrtausend. Seine Begegnung mit Moskau kam erst nach Jahrhunderten der Herrschaft von Orten wie Wilna und Warschau, und die Aufnahme der ukrainischen Gebiete in die Sowjetunion erfolgte erst nach dem militärischen und politischen Kämpfen, die die Bolschewiken selbst überzeugten, dass die Ukraine als eigenständige politische Einheit behandelt werden musste. Nach einer äußerst komplizierten Serie von Ereignissen, in deren Verlauf Kyiw ein Dutzend Mal besetzt wurde, trug die Rote Armee den Sieg davon, und 1922 entstand eine sowjetische Ukraine als Teil der neuen Sowjetunion.

Gerade weil die ukrainische Nationalbewegung so schwer zu unterdrücken war und weil die sowjetische Ukraine die westliche Grenzregion der Sowjetunion bildete, war die Frage ihrer europäischen Identität von Anfang an von zentraler Bedeutung für die sowjetische Geschichte. In der sowjetischen Politik bestand eine ambivalente Einstellung gegenüber Europa: Die sowjetische Modernisierung sollte die kapitalistische Moderne Europas nachahmen – allerdings nur, um sie zu überflügeln. Dabei konnte Europa je nach Zeit, Perspektive und Stimmung der Führer als fortschrittlich oder als rückschrittlich dargestellt werden. In den 1920er Jahren förderte die sowjetische Politik die Entwicklung einer intellektuellen und politischen Klasse in der Ukraine, weil man glaubte, aufgeklärte Ukrainer würden sich für die sowjetische Zukunft entscheiden. In den 1930er Jahren versuchte die sowjetische Politik, die ländlichen Regionen der Ukraine zu modernisieren, indem man den Boden in Kollektiveigentum überführte und die Bauern zu Angestellten des Staates machte. Das führte zu massivem Widerstand in der Bauernschaft, die an das Privateigentum glaubte, sowie zu sinkenden Ernteerträgen.

Josef Stalin verwandelte diese gescheiterten Bemühungen in einen Sieg, indem er ukrainische Nationalisten und deren ausländische Unterstützer für den Misserfolg verantwortlich machte. Er requirierte weiterhin Nahrungsmittel in der Ukraine, obwohl er sehr genau wusste, dass er damit Millionen von Menschen dem Hungertod überantwortete, und er vernichtete die ukrainische Intelligenz. Mehr als drei Millionen Menschen verhungerten in der sowjetischen Ukraine. Die Folge war eine neue sowjetische Einschüchterungskampagne, in der Europa nur als Bedrohung dargestellt wurde. Stalin stellte die absurde, aber wirkungsvolle Behauptung auf, Ukrainer hungerten sich auf Befehl aus Warschau willentlich zu Tode. Später behauptete die sowjetische Propaganda, wer die Hungersnot erwähne, müsse ein Agent Nazideutschlands sein.

So begann die Politik des Faschismus und Antifaschismus, in der Moskau der Verteidiger alles Guten war und seine Kritiker Faschisten sein mussten. Die äußerst wirkungsvolle rhetorische Pose schloss ein wirkliches sowjetisches Bündnis mit den wirklichen Nazis 1939 keineswegs aus. Angesichts des aktuellen Rückgriffs der russischen Propaganda auf den Antifaschismus ist dies ein wichtiger Punkt, an den man denken sollte: Der grandiose moralische Manichäismus sollte allein dem Staat dienen und setzte ihm daher keinerlei Grenzen. Der Rückgriff auf den Antifaschismus als Strategie ist etwas ganz anderes als der Kampf gegen wirkliche Faschisten.

Die Ukraine stand im Zentrum der Politik, die Stalin als »innere Kolonisierung« bezeichnete; und sie stand auch im Zentrum der Hitlerschen Pläne für eine äußere Kolonisierung. Sein »Lebensraum« war in erster Linie die Ukraine. Deren fruchtbare Böden sollten von sowjetischer Macht gesäubert und für Deutschland ausgebeutet werden. Man plante, Stalins kollektivierte Landwirtschaft beizubehalten, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aber von Ost nach West umzuleiten. Deutsche Planer erwarteten, dass dabei etwa dreißig Millionen Einwohner der Sowjetunion verhungern würden. Nach dieser Denkweise waren die Ukrainer natürlich Untermenschen, unfähig zu einem normalen politischen Leben und nur für eine Kolonisierung geeignet. Kein europäisches Land wurde einer so intensiven Kolonisierung unterworfen wie die Ukraine, und kein europäisches Land musste derart leiden. Zwischen 1933 und 1945 war die Ukraine der tödlichste Ort der Erde.

Obwohl Hitlers Hauptziel die Vernichtung der Sowjetunion war, erkannte er die Notwendigkeit eines Bündnisses mit der Sowjetunion, um den bewaffneten Konflikt beginnen zu können. Als klar war, dass Polen kämpfen würde, gewann Hitler Stalin 1939 für eine doppelte Invasion. Stalin hatte seit Jahren auf solch eine Einladung gehofft, denn seit Jahren zielte die sowjetische Politik auf eine Zerschlagung Polens. Außerdem sah Stalin in einem Bündnis mit Hitler, also einer Kooperation mit der extremen europäischen Rechten, den Schlüssel zur Zerstörung Europas. Ein deutsch-sowjetisches Bündnis, so hoffte er, werde Deutschland gegen seine europäischen Nachbarn stellen und zu einer Schwächung oder gar zur Vernichtung des europäischen Kapitalismus führen. Diese Vorstellung unterscheidet sich, wie wir noch sehen werden, gar nicht so sehr von einer Berechnung, die Wladimir Putin heute anstellt.

Das Ergebnis der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Invasion war die Niederlage Polens und die Zerschlagung des polnischen Staates, aber auch eine wichtige Entwicklung innerhalb des ukrainischen Nationalismus. In den 1930er Jahren hatte es in der Sowjetunion keine ukrainische Nationalbewegung gegeben; das wäre ganz unmöglich gewesen. In Polen gab es jedoch eine terroristische Untergrundbewegung namens Organisation Ukrainischer Nationalisten. In normalen Zeiten war sie kaum mehr als ein Ärgernis, aber mit dem Krieg wuchs ihre Bedeutung. Die OUN wandte sich gleichermaßen gegen die polnische und die sowjetische Herrschaft über die in ihren Augen ukrainischen Gebiete und sah daher in einer deutschen Besetzung des Ostens die einzige Möglichkeit, mit dem Aufbau eines ukrainischen Staates zu beginnen. So unterstützte denn die OUN Deutschland 1939 bei der Invasion Polens und dann erneut 1941, als Deutschland seinen Verbündeten verriet und die UdSSR angriff. Linksgerichtete ukrainische Revolutionäre, von denen es vor dem Krieg recht viele gegeben hatte, gingen nach den Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft oft zur radikalen Rechten über. Außerdem ermordeten die Sowjets selbst den Führer der ONU, was wiederum zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen von Stepan Bandera und Andrij Melnyk führte.

1941 erprobten ukrainische Nationalisten eine politische Kollaboration mit Deutschland und scheiterten. Hunderte ukrainische Nationalisten beteiligten sich als Kundschafter und Dolmetscher am deutschen Angriff auf die Sowjetunion, und einige von ihnen halfen den Deutschen bei der Organisation von Pogromen. Ukrainisch-nationalistische Politiker versuchten, den Lohn für diese Kollaboration einzustreichen, indem sie im Juni 1941 eine unabhängige Ukraine ausriefen. Aber Hitler war an solch einer Aussicht absolut nicht interessiert. Viele Nationalistenführer wurden getötet oder inhaftiert. Stepan Badura verbrachte den Rest des Krieges in Sachsenhausen.

Manche Ukrainer kollaborierten weiterhin mit den Deutschen, um militärische Erfahrung zu sammeln, oder in der Hoffnung auf eine politische Wende für den Fall, dass die Deutschen sie doch einmal brauchen sollten. Aber wie überall in Europa hatte die praktische Kollaboration zum überwiegenden Teil kaum etwas mit Politik zu tun.
Als der Krieg seinen Lauf nahm, bereiteten viele ukrainische Nationalisten sich auf einen Aufstand vor für den Zeitpunkt, da die deutsche durch die sowjetische Macht ersetzt würde. Sie sahen in der UdSSR ihren Hauptgegner, teilweise aus ideologischen Gründen, aber vor allem, weil sie den Krieg gewann. In Wolhynien schufen ukrainische Nationalisten eine Ukrainische Aufständische Armee, deren Aufgabe es war, irgendwie die Sowjets zu besiegen, nachdem diese die Deutschen besiegt hatten. 1943 unternahm sie eine massive und mörderische ethnische Säuberung unter den Polen und tötete zugleich eine Reihe von Juden, die sich bei den Polen versteckt hatten. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Kollaboration mit den Deutschen, sondern um den mörderischen Teil einer, wie ihre Führer es verstanden, nationalen Revolution. Danach bekämpften die ukrainischen Nationalisten die Sowjets in einem grauenhaften Partisanenkrieg, in dem beide Seiten die brutalsten Mittel einsetzten.

Die politische Kollaboration und der Aufstand ukrainischer Nationalisten stellten letztlich in der Geschichte der deutschen Okkupation nur ein Element von untergeordneter Bedeutung dar. Infolge des Krieges wurden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa sechs Millionen Menschen getötet, darunter etwa 1,5 Millionen Juden. Die Deutschen erprobten ihre Techniken der Massenvernichtung in Kamenez Podolsk und Babyn Jar, wo mehr als zwanzigtausend bzw. dreißigtausend Juden in Massenerschießungen ermordet wurden. In der gesamten besetzten sowjetischen Ukraine kollaborierten Einheimische mit den Deutschen, wie sie es auch in der besetzten Sowjetunion und im ganzen besetzten Europa taten. Tausende von Russen kollaborierten mit der deutschen Besatzung und zeigten nicht mehr und nicht weniger Neigung dazu als die Ukrainer.
Der eigentliche Gegensatz besteht nicht zwischen Ukrainern und anderen sowjetischen Völkern, sondern zwischen den sowjetischen Völker und den Westeuropäern. Im Allgemeinen wurden Angehörige der sowjetischen Völker mit und ohne Uniform von den Deutschen in weit höheren Zahlen getötet als Westeuropäer. Aber in der Ukraine wurden sehr viel mehr Menschen von den Deutschen ermordet, als mit ihnen kollaborierten, und das gilt für kein anderes besetztes Land in Westeuropa. Deshalb kämpften sehr viel mehr Menschen aus der Ukraine gegen die Deutschen als auf der Seite der Deutschen, und auch das gilt für kein anderes besetztes westeuropäisches Land. Die große Mehrheit der Ukrainer, die im Krieg kämpften, tat dies in der Uniform der Roten Armee. Im Kampf gegen die Wehrmacht kamen mehr Ukrainer ums Leben als amerikanische, britische und französische Soldaten zusammengenommen.

Die russische Propaganda besteht heute fälschlicherweise darauf, dass die Rote Armee eine russische Armee war. Wenn die Rote Armee eine russische Armee ist, müssen die Ukrainer Feinde gewesen sein. Diese Denkweise erfand Stalin selbst Ende des Krieges. Die Idee des Großen Vaterländischen Krieges diente drei Zielen: Sie ließ die Handlung 1941 statt 1939 beginnen, so dass das deutsch-sowjetische Bündnis in Vergessenheit geriet; sie stellte Russland ins Zentrum des Geschehens, obwohl die Ukraine in weitaus höherem Maße im Zentrum des Krieges stand; und sie ignorierte vollkommen das Leid der Juden.

Das heutige politische Gedächtnis wird weitaus stärker von der Nachkriegspropaganda geprägt als von der Erfahrung des Krieges. Keiner der heutigen Machthaber erinnert sich noch an den Zweiten Weltkrieg, auch wenn manche führenden russischen Politiker die Geschichtsversion zu glauben scheinen, die man sie als Kind gelehrt hat. Die gegenwärtigen politischen Führer Russlands sind Kinder der 1970er Jahre und damit des Breschnew’schen Kults des Krieges. Der Große Vaterländische Krieg wurde zu einer Sache der Russen, ohne Berücksichtigung der Ukrainer und Juden. Die Juden litten mehr als jede andere sowjetische Bevölkerungsgruppe, aber der Holocaust als solcher hatte keinen Platz in der sowjetischen Geschichte. Er erschien allenfalls in der antiwestlichen Propaganda, in der man das Leid der Juden gänzlich ukrainischen und anderen Nationalisten in die Schuhe schob – Menschen, die in Gebieten lebten, die Stalin im Krieg als Hitlers Verbündeter erobert hatte, und Menschen, die Widerstand gegen die Sowjetmacht geleistet hatten, als die 1945 zurückkehrte. An diese Tradition knüpfen die russischen Propagandisten in der gegenwärtigen Ukraine-Krise an: vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust, soweit sie ihn nicht als politisches Instrument zur Manipulation der Menschen im Westen benutzen können.

Die größte Bedrohung für eine differenziert ukrainische Identität kam vielleicht aus der Breschnew-Ära. Anstatt der Unterordnung der Ukraine durch Hunger oder der Schuldzuweisung für den Krieg an die Ukrainer bestand die Breschnew-Politik darin, die ukrainischen gebildeten Klassen in der sowjetischen humanistischen und technischen Intelligenz zu absorbieren. Als Ergebnis wurde die ukrainische Sprache aus den Schulen, vor allem aus Hochschulen, verbannt. Ukrainer, die auf die Menschenrechte bestanden, wurden immer noch im Gefängnis oder in den hässlichen psychiatrischen Kliniken bestraft. In dieser Atmosphäre besannen sich die ukrainischen Patrioten und sogar die ukrainischen Nationalisten auf ein bürgerliches Verständnis der ukrainischen Identität und spielten die älteren Argumente über Herkunft und Geschichte zugunsten eines pragmatischen Ansatzes für die gemeinsamen politischen Interessen herunter.

Im Dezember 1991 stimmten mehr als 90 Prozent der Einwohner der sowjetischen Ukraine für die Unabhängigkeit (und zwar mit einer Mehrheit in allen Regionen der Ukraine). Danach gingen Russland und die Ukraine getrennte Wege. Privatisierung und Gesetzlosigkeit führten in beiden Ländern zu einer Oligarchie. In Russland wurden die Oligarchen durch einen zentralisierten Staat unterdrückt, während sie in der Ukraine eine eigene Form von Pluralismus schufen. Bis in die allerjüngste Zeit schwankten alle Präsidenten der Ukraine in der Außenpolitik zwischen Ost und West und in der Innenpolitik zwischen verschieden Oligarchen-Clans.

Ungewöhnlich an Viktor Janukowytsch war, dass er jeglichem Pluralismus ein Ende zu setzen versuchte, nicht nur dem im Volk, sondern auch dem der Oligarchen. In der Innenpolitik schuf er eine Scheindemokratie, in der sein Lieblingsgegner die weit rechts stehende Svoboda-Partei war. Dadurch führte er eine Situation herbei, in der er Wahlen gewinnen und ausländischen Beobachtern sagen konnte, er sei immerhin besser als die nationalistische Alternative. In der Außenpolitik sah er sich zu Wladimir Putins Russland hingedrängt, und das nicht, weil er dies gewünscht hätte, sondern weil seine eigene Art des Regierens eine substanzielle Zusammenarbeit mit der Europäischen Union schwierig machte. Janukowytsch scheint so viel aus der Staatskasse gestohlen zu haben, dass der Staat 2013 kurz vor dem Bankrott stand, und das machte ihn auch anfällig für russischen Druck. Moskau war bereit, über Janukowytschs eigenartige Praxis hinwegzusehen und das für dringende Zahlungen benötigte Geld zu leihen – ein politischer Preis.

Nun war es nicht länger möglich, zwischen Russland und dem Westen zu schwanken. Aber 2013 stand Moskau nicht mehr für einen russischen Staat mit mehr oder weniger berechenbaren Interessen, sondern für ein weitaus grandioseres Projekt einer eurasischen Integration. Das eurasische Projekt bestand aus zwei Teilen: der Schaffung einer Freihandelszone zwischen Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan und der Zerstörung der Europäischen Union durch eine Unterstützung der extremen Rechten in Europa. Der imperiale soziale Konservatismus lieferte den ideologischen Deckmantel für ein höchst einfaches Ziel. Das Putin-Regime ist abhängig vom Verkauf des Erdöls und Erdgases, die über Pipelines nach Westeuropa transportiert werden. Ein einiges Europa könnte unter dem Druck russischer Unberechenbarkeit oder der globalen Erwärmung oder beider Faktoren zu einer gemeinsamen Energiepolitik finden. Ein uneiniges Europa bliebe dagegen abhängig von den russischen Energielieferungen.

Aber kaum waren diese ehrgeizigen Ziele formuliert, zerschellte die stolze eurasische Pose an der Realität der ukrainischen Gesellschaft. Ende 2013 und Anfang 2014 führte der Versuch, die Ukraine in den eurasischen Machtbereich hereinzuholen, zum genau entgegensetzten Ergebnis. Zuerst brachte Russland Janukowytsch mit politischen Mitteln davon ab, ein Handelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das führte zu Protesten in der Ukraine. Dann bot Russland einen großen Kredit und günstige Gaspreise als Lohn für eine Zerschlagung des Protests an. Im Januar nach russischem Vorbild eingeführte Gesetze machten den Protest zu einer Massenbewegung. Millionen von Menschen, die sich zu friedlichen Demonstrationen versammelt hatten, wurden plötzlich zu Kriminellen gestempelt, und einige von ihnen begannen, sich gegen die Polizei zu wehren. Schließlich machte Russland öffentlich deutlich, dass Janukowytsch Kyiw von Demonstranten säubern musste, wenn er das Geld erhalten wollte. Im Februar folgte dann das Scharfschützenmassaker, das einen eindeutigen moralischen und politischen Sieg für die Revolutionäre darstellte und Janukowytsch zur Flucht nach Russland zwang. Der Versuch, in der Ukraine eine Diktatur zu errichten, bewirkte genau das Gegenteil: die Rückkehr zu parlamentarischer Herrschaft, die Ankündigung von Präsidentschaftswahlen und eine auf Europa ausgerichtete Außenpolitik.

Das machte die Revolution in der Ukraine nicht nur zu einem Desaster für die russische Außenpolitik, sondern auch zu einer Gefahr für das russische Regime im Inland. Die Schwäche der Putinschen Politik liegt darin, dass sie mit dem Handeln freier Menschen, die sich als Reaktion auf unvorhersehbare historische Ereignisse selbst organisieren, nichts anzufangen weiß. Ihre Stärke liegt in ihrem taktischen Geschick und ihrer ideologischen Schamlosigkeit. So wurde denn Eurasien sehr schnell modifiziert: Es war nun kein Club von Diktatoren mehr und der Versuch, die EU zu zerstören, sondern der Versuch, den ukrainischen Staat und die EU gleichermaßen zu destabilisieren. Die russische Propaganda stellte die ukrainische Revolution als Nazi-Staatsstreich dar und warf den Europäern vor, diese angeblichen Nazis zu unterstützen. Diese Version war zwar lächerlich, aber in Putins mentaler Welt weitaus komfortabler, weil sie das Debakel der russischen Außenpolitik aus dem Blickfeld rückte und die spontane Aktion der Ukrainer durch eine ausländische Verschwörung ersetzte.

Die russische Invasion und Besetzung der ukrainischen Krim, und jetzt von Donezk und Luhansk waren ein frontaler Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung und auf den ukrainischen Staat. Bei der Annexion der Krim bediente Putin sich bezeichnenderweise der Hilfe seiner extremistischen Verbündeten in ganz Europa. Keine angesehene Organisation durfte die Wahlfarce beobachten, bei der angeblich 97 Prozent der Einwohner der Krim für die Annexion stimmten. Aber eine bunt zusammengewürfelte Delegation aus rechtsgerichteten Populisten, Neonazis und Mitgliedern der deutschen Partei Die Linke war gerne bereit zu kommen und die Ergebnisse zu bestätigen. Die deutsche Delegation auf der Krim bestand aus vier Mitgliedern der Linken und einem Mitglied der Neuen Rechten – eine aufschlussreiche Kombination.

Die Linke agiert im Rahmen einer von der russischen Propaganda geschaffenen virtuellen Realität, die der europäischen Linken aus Moskauer Sicht die Aufgabe zuweist, die ukrainische, aber nicht die europäische und ganz gewiss nicht die russische Rechte zu kritisieren. Dies ist auch ein amerikanisches Phänomen, erkennbar zum Beispiel in der sonst überraschenden Übereinstimmung bei der Beurteilung der Natur der ukrainischen Revolution und der Plausibilität der russischen Konterrevolution, wie sie in Lyndon LaRouches “Executive Intelligence Review”, dem Ron-Paul-Institut für Frieden und Wohlstand, und “The Nation” ausgedrückt wird.

Nun entbehrt solch eine Kritik keineswegs jeglicher Grundlage. Die Ukraine besitzt eine extreme Rechte, und deren Mitglieder haben einen gewissen Einfluss. Janukowytschs hauseigene Opposition Svoboda befreite sich von dieser Rolle in der Revolution. In der gegenwärtigen ukrainischen Regierung stellt sie drei von zwanzig Ministern. Angesichts ihres Wähleranteils von 2 Prozent und ihrer Vertretung im Parlament ist sie damit überrepräsentiert. Unter denen, die während der Revolution gegen die Polizei kämpften, gehörten einige, wenn auch keineswegs die meisten, einer neuen Gruppe namens Rechter Sektor an. Deren Präsidentschaftskandidat liegt in Umfragen unter 1 Prozent, und die Gruppe selbst hat um die dreihundert Mitglieder. Die extreme Rechte findet also eine gewisse Unterstützung in der Ukraine, wenn auch weniger als in den meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Revolutionäre Situationen begünstigen stets Extremisten, und gewiss ist hier Wachsamkeit geboten. Es ist jedoch erstaunlich, dass Kyiw und die Ukraine unmittelbar nach der Revolution zur Ordnung zurückkehrten und dass die neue Regierung angesichts der russischen Invasion eine nahezu unglaubliche Ruhe bewahrt hat. Das einzige Szenario, in dem ukrainische Extremisten in den Vordergrund treten, ist eines, in dem Russland tatsächlich versucht, auch den Rest des Landes zu besetzen. Falls im Mai die Präsidentschaftswahlen stattfinden, wird sich zeigen, wie wenig populär und wie schwach die extreme Rechte in der Ukraine ist. Deshalb ist Moskau gegen diese Wahlen.

Menschen, die nur die ukrainische Rechte kritisieren, übersehen häufig zwei wesentliche Dinge. Erstens ging die ukrainische Revolution von der Linken aus. Ihr Gegner war ein autoritärer Kleptokrat, und ihr zentrales Programm waren soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Initiiert wurde sie von einem Journalisten afghanischer Herkunft, ihre ersten beiden Todesopfer waren ein Armenier und ein Belarusse, und sie wurde sowohl von muslimischen Krimtataren als auch von zahlreichen Juden unterstützt. Ein jüdischer Veteran der Roten Armee gehörte zu den beim Scharfschützenmassaker Getöteten. Und zahlreiche Veteranen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte kämpften für die Freiheit der Ukraine.

Der Majdan war zweisprachig, ukrainisch und russisch, weil Kyiw eine zweisprachige Stadt, die Ukraine ein zweisprachiges Land und die Ukrainer ein zweisprachiges Volk sind. Die gegenwärtige Regierung ist ganz selbstverständlich multiethnisch und multilingual. Die Ukraine ist ein kosmopolitisches Land, in dem Sprache und ethnische Zugehörigkeit weniger Bedeutung haben, als wir meinen. Tatsächlich beherbergt die Ukraine heute die größten und wichtigsten freien Medien in russischer Sprache, da alle wichtigen Medien der Ukraine auch in Russisch erscheinen und Meinungsfreiheit herrscht. Putins Behauptung, er wolle die Russischsprachigen in der Ukraine schützen, ist in mehrfacher Hinsicht absurd, aber in einer Hinsicht ganz besonders: In der Ukraine können die Menschen auf Russisch sagen, was sie wollen; in Russland selbst können sie das nicht. Die Separatisten im ukrainischen Osten, die nach einer Reihe von Meinungsumfragen eine Minderheit der Bevölkerung darstellen, protestieren für das Recht sich einem Land anzuschließen, in dem jeder Protest illegal ist. Sie setzen sich dafür ein, die Wahlen zu stoppen, bei denen die berechtigten Interessen der Ukrainer im Osten geäußert werden könnten. Wenn diese Regionen zu Russland kommen, können ihre Einwohner in der Zukunft sinnvolle Stimmabgaben vergessen.

Der zweite Punkt, der übersehen wird, ist dieser: Die autoritäre extreme Rechte in Russland ist unendlich gefährlicher als die autoritäre extreme Rechte in der Ukraine. Zum einen, weil sie an der Macht ist. Zum anderen, weil sie keine ernstzunehmenden Rivalen hat. Drittens braucht sie keine Rücksichten auf internationale Erwartungen zu nehmen. Und sie verfolgt heute eine Außenpolitik, die offen auf eine Ethnisierung der Welt setzt. Es spielt keine Rolle, was ein Mensch in rechtlicher Hinsicht oder nach seinen eigenen Präferenzen sein mag. Die Tatsache, dass er russisch spricht, macht ihn zu einem »Volksgenossen«, der russischen Schutz und das heißt eine Invasion verlangt.

Das russische Parlament hat Putin autorisiert, die gesamte Ukraine zu besetzen und deren soziale und politische Strukturen zu verändern: ein extrem radikales Ziel. Es hat auch ein Schreiben an den polnischen Außenminister geschickt mit dem Vorschlag, die Ukraine aufzuteilen. Im populären russischen Fernsehen werden Juden für den Holocaust verantwortlich gemacht; in der großen Tageszeitung Iswestija wird Hitler als vernünftiger Staatsmann rehabilitiert, der auf einen unvernünftigen westlichen Druck reagierte; am Maifeiertag marschierten die russischen Neonazis.

All das steht im Einklang mit den grundlegenden ideologischen Prämissen Eurasiens. Während die europäische Integration von der Prämisse ausgeht, dass Nationalsozialismus und Stalinismus negative Beispiele waren, geht die eurasische Integration von der abgenutzten postmodernen Prämisse aus, die Geschichte sei ein Wühltisch nützlicher Ideen. Während die europäische Integration eine freiheitliche Demokratie voraussetzt, lehnt die eurasische Ideologie sie ausdrücklich ab. Der wichtigste Eurasien-Ideologe Alexander Dugin, der einmal einen Faschismus, »so rot wie unser Blut«, forderte, erhält heute mehr Aufmerksamkeit als jemals zuvor. Seine drei politischen Grundideen – die Notwendigkeit, die Ukraine zu kolonisieren, die Dekadenz der Europäischen Union; und der Wunsch nach einem alternativen eurasischen Projekt, das von Lissabon bis Wladiwostok reicht – werden heute offiziell als russische Außenpolitik formuliert, wenn auch natürlich nicht in so wilder Form wie bei ihm. Dugin gibt den Separatistenführern im Osten der Ukraine jetzt radikale Ratschläge.

Putin präsentiert sich jetzt als Führer der extremen Rechten in Europa, und die Führer der rechten Parteien Europas leisten ihre Treueschwüre. Es besteht ein offensichtlicher Widerspruch: Die russische Propaganda beharrt gegenüber den Westlern darauf, dass das eigentliche Problem der Ukraine sei, dass ihre Regierung zu weit rechts stünde, während Russland gleichzeitig eine Koalition mit der europäischen extremen Rechten aufbaut. Extremistische, populistische und Neonazi-Parteimitglieder fuhren auf die Krim und lobten die Wahlfarce als Modell für Europa. Als Anton Schechowzow, ein Forscher der europäischen extremen Rechten, hat darauf hingewiesen, dass der Führer der bulgarischen Rechtsextremen den Wahlkampf seiner Partei für das Europäische Parlament in Moskau eröffnet hat. Die italienische Fronte Nazionale lobt Putin für seine “mutige Position gegen die mächtige Lobby der Homosexuellen. Die Neonazis von der griechischen Goldenen Morgenröte sehen Russland als Verteidiger der Ukraine gegen “die Raben des internationalen Wuchers. ” Heinz-Christian Strache von der österreichischen FPÖ stimmt in die surreale Lobhudelei ein, dass Putin ein “reiner Demokrat” sei. Selbst der Führer der United Kingdom Independence Party (UKIP) teilte kürzlich in einer TV-Debatte Putins Propaganda im Blick auf die Ukraine mit Millionen britischen Fernsehzuschauern.

Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sollen am 25. Mai stattfinden, und es ist durchaus kein Zufall, dass sie mit den Wahlen zum Europäischen Parlament zusammenfallen. Eine Stimme für Strache in Österreich oder Le Pen in Frankreich oder auch für Farage in Großbritannien ist unter diesen Umständen eine Stimme für Putin, und eine Niederlage für Europa ist ein Sieg für Eurasien. Ein vereintes Europa kann am ehesten angemessen auf einen aggressiven russischen Ölstaat mit einer gemeinsamen Energiepolitik reagieren, und wird es auch tun, was eine zerstrittene Ansammlung von Nationalstaaten eben nicht kann. Die Rückkehr zum Nationalstaat ist natürlich eine populistische Fantasie. Deshalb wird die Integration in der einen oder anderen Form weitergehen. Nur die Form steht zu Wahl. Politiker und Intellektuelle sagten früher gern, es gebe keine Alternative zum europäischen Projekt, aber jetzt gibt es eine: Eurasien.

Die Ukraine hat keine Zukunft ohne Europa, aber Europa hat auch keine Zukunft ohne die Ukraine. Über die Jahrhunderte haben sich in der Ukraine die Wendepunkte der europäischen Geschichte gezeigt. Das scheint auch heute noch zu gelten. Wie die Dinge sich wenden werden, hängt natürlich zumindest in der nächsten Zeit von den Europäern ab.

 

Quelle: New Republic vom 11.5. 2014
Übersetzung ins Deutsche: Euromaidan PR auf Deutsch
unter Verwendung des früher erschienenen FAZ- Artikels “Putins Projekt”  vom 13.4.2014

 

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