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Kritik des Weltspiegel-Berichtes „Ukraine: Neues Russland – Traum und Schrecken“ vom 28.09.2014

The “Novorossiya” map disseminated by Russian propagandists in occupied Donetsk in 2014. The map shows that Russia in the course of the project Novorossiya intended to occupy the entire south and east of Ukraine. Crimea is marked as not part of Ukraine and only the central and western provinces are marked as Ukraine on this map.
Article by: Martina Steis

Natürlich ist es löblich, dass ein ARD-Kamerateam sich in diesen gefährlichen Zeiten dorthin aufmacht. Nur ist es mit Kamera-Drauf-Halten noch lange nicht getan, nach dem Einfangen der Originaltöne sollte die eigentliche journalistische Aufarbeitung und Analyse erst anfangen. Gerade von einer Moskau-Korrespondentin kann man erwarten, dass sie über die notwendigen Landeskenntnisse verfügt und damit einem deutschen Zuschauer die Einordnung ermöglicht.

Bereits der Ankündigungstext in der Mediathek lässt nichts Gutes ahnen: eine “selbsternannte Volksrepublik Neues Russland” will Frau Virnich besuchen. Bislang gibt es in dieser Region eine “selbsternannte Volksrepublik Donezk” und eine “selbsternannte Volksrepublik Luhansk”. Die Erschaffer dieser Entitäten mögen vielleicht von Neurussland bzw. Novorossija träumen, bislang spielt das aber nur in der russischen Staatspropaganda eine Rolle. Als Referenz sei die Karte angeführt, die Pavel Gubarev [1] auf seiner Seite hat; außer den Gebieten Donezk und Luhansk umfasst Neurussland demnach sechs weitere ukrainische Gebiete plus die von Russland annektierte Krim [2). Es wäre freundlich gewesen, den deutschen Zuschauer darauf hinzuweisen, bevor der Begriff „Volksrepublik Neues Russland“ durch kritiklose Perpetuierung hier eingeführt wird. Stattdessen sagt u.a. eine interviewte Frau: „Wir wollen, dass es Neurussland gibt, als anerkanntes, als vollständiges Land.“ Dass Donezk und Luhansk im Mai ein Bündnis geschlossen haben, dass sich als Neurussland bezeichnet, ist vor diesem Hintergrund nicht wirklich beruhigend. [3]

1. Man wolle sich keine fremden Werte aufzwingen lassen
Hier wäre es hilfreich gewesen, nachzuhaken, was denn diese “fremden Werte” sein sollen. Gerade im Donbas wird viel russisches Fernsehen geschaut; leider ist das Hautargument gegen die EU, dass dort “Gayropa” [4]sei. Die russische Suchmaschine yandex findet für Gayropa 341.000 Einträge, für die Kombination Gayropa und EU 182.000. Die verbreitete Homophobie wird als wichtigster Hebel gegen eine Annäherung an Westeuropa instrumentalisiert.

2. Die Steuern sollen in der Region bleiben und nicht nach Kiew abgeführt werden
Netter Gedanke – einen vergleichbaren hatten auch Aktivisten im Kuban, als sie im August für eine Föderalisierung innerhalb der Russischen Föderation eintraten. Sie wollten u.a., dass die Einnahmen aus dem Tourismus bei ihnen bleiben und nicht nach Moskau fließen. Drei davon, Darja Poljubova, Vljatcheslav Martynov und Petr Ljubchenkov sind deswegen die Tage auf einer Liste gelandet, die Extremisten und Terroristen erfasst [5]. Poljubova sitzt schon seit August in einem vom FSB kontrollierten Gefängnis in Krasnodar ein, einer der ihr vorgeworfenen Paragraphen ist § 280.I.2. StGB RF (öffentlicher Aufruf zur Zerstörung der territorialen Einheit der Russischen Föderation durch das Internet), hat sie zwar nicht, aber was soll´s [6]. Dafür wird sie höchstwahrscheinlich die erste, die jemals dafür verurteilt werden wird – der Paragraph ist nämlich niegelnagelneu vom 09.05.14 und flugs nach der Krimannektion eingeführt worden. Strafrahmen: bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug. Es soll ja niemand davon ausgehen, dass in Russland eine Region durch eine Abstimmung über ihren eigenen Status entscheiden könnte.

3. Die Leute in Russland leben viel besser
Das berichten auch nur die russischen Nachrichten, die Aussage stammt von jemandem, der zu Zeiten der Sowjetunion zum letzten Mal da war. Als Bürger gesehen haben, wie viel Geld nach der Annektion der Krim dorthin gepumpt wird, u.a. aus dem russischen Pensionsfond (243 Milliarden Rubel [7]), haben sie ebenfalls ihren Anschluss an Russland gefordert – nur waren das bemerkenswerter Weise die russischen Städte Vologda und Tver’ im März, Chabarovsk im April [8]. In ihren Teilen des Landes merken sie nämlich auch nichts von dem sagenhaften Lebensstandard, den es laut den russischen Fernsehnachrichten gibt.

4. Die „Wahlen“ am 04.11.14 in den „selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk“
Auch hier wäre angebracht gewesen darauf hinzuweisen, dass sich hinter dem unverdächtigen Begriff Wahlen etwas verbirgt, was derzeit nicht absehbar ist. Die ukrainischen Parlamentswahlen finden am 26.10. 14 statt; zwar ist in Minsk ein Sonderstatus für die Gebiete Donezk und Luhansk vereinbart worden – wie der tatsächlich aussieht ist wohl noch nicht endgültig durch die Kiewer Verchovna Rada beschlossen worden. Kiev hatte Wahlen per Gesetz in dieser Region für den 7.12.14 festgelegt [9], eigenmächtig beschlossen die „selbsternannten Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk letzte Woche einen Wahltermin am 2.11.14, verabschiedeten über Nacht ein eigenes Wahlgesetz und teilten mit, dass Bewohner dieser Gebiete, die nach Russland geflüchtet sind, dort in Rostov am Don, Belgorod und Voronesh abstimmen könnten [10]. Das nur als kleinen Einblick in das aktuelle und zu erwartende Chaos – eine offizielle Internetseite dieser neuen Entitäten vermeldet Kritik von Außenminister Steinmeier, die Wahlen im November „stören den zerbrechlichen Friedensprozess“ [11] (mit Verweis auf Reuters, was sich bislang nicht verifizieren ließ). Aber die ARD-Korrespondentin spricht von Wahlen, als liefe dort das Normalste der Welt ab.

5. Der Kandidat Igor Kostenok
Ebenso arglos wird der Kandidat Igor Kostenok per Einblendung als Wirtschaftsprofessor vorgestellt. Er darf kritisieren, dass der ukrainische Präsident Poroshenko das Assoziierungsabkommen mit der EU „ohne Zustimmung der Führung von Donezk und Luhansk“ unterschrieben habe. Diese Vorbringung ist nicht wirklich logisch, wenn sie eine Person macht, die genau die Loslösung dieser Gebiete von der Ukraine betreibt. Die Umsetzung führe zum Zusammenbruch der Zechen und der gesamten Industrie dieser Region. Vollends absurd wird es, wenn man sich genauer anschaut, wem hier mit sträflicher Naivität kommentarlos eine Plattform geboten wird. Kostenok ist „Bildungsminister“ der „selbsternannten Volksrepublik Donezk“; es war bestimmt pittoresk, wie er im September begleitet von Bewaffneten die Donezker Hochschulen an eine Moskauer bzw. russische Universität angeschlossen und vom Lehrpersonal einen Eid auf seine „Volksrepublik“ verlangt hat [12]. Wahrscheinlich hat er nur vergessen in Kiev nachzufragen, ob man dort damit einverstanden ist. Seine Besorgnis, die Industrie der Region könne bei einer Annäherung an Europa zusammenbrechen, wird nachvollziehbar, wenn man sich anschaut, welche Firmenbeteiligungen er haben soll, örtliche Oligarchen und kriminelle Strukturen lassen grüßen [13] Der Donbas, der Homebase von Viktor Janukovitch und seiner Partei der Regionen war, ist berühmt für seine Verflechtungen von Kapital, Oligarchen und Mafia.

6. Weil die Zechen nicht europäischen Standards entsprechen
Sie entsprechen auch nicht russischen Standards, auf der russischen Seite der Grenze sind die Bergwerke längst geschlossen. Implizit wird ohne diesen Hinweis wieder der EU-Annäherung eine Schuld zugewiesen, die sie nicht haben kann. Auch Russland schließt unrentable Betriebe, laut der Rostover Ausgabe der Zeitung Argumenty i Fakty vom 15.09.13 haben in dieser Region 100.000 Bergarbeiter in den letzten Jahren ihre Arbeit verloren, es gibt noch ganze zwei Bergwerke, die in Betrieb sind [14]

7. Konvoi mit Lebensmitteln aus Russland
En passant wird das erwähnt, kein Wort über die berechtigte Kritik der Ukraine, über die langen Verhandlungen über Kontrollen beim ersten Konvoi, die nur teilweise umgesetzt werden konnten; darüber, dass der zweite einfach so die über die Grenze gefahren ist. Über die Protestnote der Ukraine anlässlich des dritten Konvois, der wieder die ukrainische Staatsgrenze und Zollbestimmungen verletzt hat und auch nicht mit dem Internationalen Roten Kreuz abgestimmt worden war [15]. Nein, laut diesem Weltspiegel-Bericht leistet Russland humanitäre Hilfe – er verschweigt außerdem, dass die Situation sich ohne russisches Zutun kaum so entwickelt und zugespitzt hätte. Vielleicht wäre erwähnenswert gewesen, dass auch die Ukraine Lebensmittel geliefert hat, von Juli bis August 1200 Tonnen[16].

In gut sechs Minuten lässt sich eine derart komplexe Situation nicht darstellen. Dennoch muss Birgit Virnich der Vorwurf gemacht werden, dass sie zulässt, dass viele Themen angerissen werden, sich aber dabei nicht im Mindesten um eine Einordnung bemüht. Von einer Russlandkorrespondentin sollte zu erwarten sein, dass sie in der Lage ist, die russische Realität darzustellen. So sie sich in ihrer eigenen begrifflichen Neuschöpfung der „selbsternannten Volksrepublik Neues Russland“ nicht auskennt, ist es hochgradig fahrlässig, sie in dieses Gebiet fahren zu lassen. Sie habe sich den Menschen gestellt, heißt es in der Anmoderation. Wenn diese aber die Propaganda des Kremls oder ihrer selbsterfundenen Volksrepubliken verbreiten, ist es die Pflicht eines jeden Journalisten, darauf mindestens hinzuweisen. Andernfalls passiert das, was wir gerade erlebt haben: deutschen Zuschauern wird eine Realität vorgegaukelt, die ohne Kenntnis der Zusammenhänge nicht durchschaubar ist. Ob dieses journalistischen Tiefpunktes bei der ARD haben am Sonntag Abend bestimmt die Sektkorken im Kreml geknallt – viel besser und subtiler hätten die ihre Botschaften auch nicht lancieren können.
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[1] Pavel Gubarev hat es u.a. geschafft „selbsternannter Volksgouverneur“ von Donezk und Verteidigungsminister der „Volksrepublik Donezk“ zu sein. Mindestens früher hatte er Verbindungen zur laut russischer Wikipedia „russischen faschistischen und rechtsradikalen Organisation Russische Volkseinheit“, er bestreitet, dass diese heute noch bestehen.
[2] http://pavelgubarev.su/wp-content/uploads/d0bad0b0d180d182d0b0.jpg
[3] Zum changierenden „Neurusslandbegriff : Länderanalysen Ukraine S.3 f. http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen136.pdf
[4] Definition nach Wiktionary: “Gayrope” (a rude term ridiculing Europe’s tolerance to gays or implying that Europe is all gays) http://en.wiktionary.org/wiki/%D0%93%D0%B5%D0%B9%D1%80%D0%BE%D0%BF%D0%B0
[5] http://ovdinfo.org/express-news/2014/09/26/storonnikov-federalizacii-vnesli-v-spisok-terroristov-i-ekstremistov
[6] http://ovdinfo.org/express-news/2014/09/02/daryu-polyudovu-obvinyayut-v-ekstremizme-i-separatizme
[7] http://www.gazeta.ru/business/2014/06/25/6085969.shtml
[8] http://www.profi-forex.org/novosti-rossii/entry1008206699.html
[9] http://www.newsru.com/world/16sep2014/rada_ukr.html
[10] http://riafan.ru/98675-ukrainskie-bezhentsyi-iz-rossii-smogut-progolosovat-na-vyiborah-glavyi-lnr/
[11] http://rusvesna.su/short_news/1411727083
[12]http://en.censor.net.ua/news/303406/armed_dpr_terrorists_sealed_off_department_of_history_in_donetsk_university_teachers_refused_to_do_fealty
[13] http://ukrainewarlog.blogspot.be/p/dpr-connections-lux-company-and.html
[14] http://www.rostov.aif.ru/society/details/125387
[15]http://gordonua.com/news/politics/Ukrainskiy-MID-zhdet-obyasneniy-ot-Rossii-po-povodu-tretego-gumanitarnogo-konvoya-42678.html
[16]http://www.pravda.com.ua/rus/news/2014/08/20/7035309/

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