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Andrij Portnow mit einigen Bemerkungen über den “Euromaidan”

Die vielschichtige und dynamische Situation in der Ukraine, die als “Eurorevolution” weithin bekannt ist, überraschte viele Beobachter. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zum Verständnis des Maidan in der Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung des Landes versucht hat, sein Streben nach einem neuen (“europäischen”) politischen und sozialen Leben zu formulieren, und die Bereitschaft zeigte, für dieses Ziel zu sterben.

Die erste Protestaktion am Donnerstag, 21. November 2013, war eine Reaktion auf die Weigerung der Regierung, das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU zu unterzeichnen, und eine Reaktion auf die Art und Weise der Bekanntgabe. Die Bürgerinnen und Bürger wurden über diese Entscheidung post factum ohne jegliche offene Diskussion darüber informiert, obwohl die Behörden noch am Vortag versichert hatten, das Assoziierungsabkommen würde sicherlich unterzeichnet werden.

Die ersten Demonstranten auf dem Maidan waren keine politischen Aktivisten, und sie hatten keine politischen Führer. Unter dem Vorwand der Aufstellung des Weihnachtsbaums auf dem Unabhängigkeitsplatz (Majdan Nesaleschnosti) hat die Polizei am Samstag, 30. November um 4 Uhr morgens die Studenten, die dort kampierten, brutal angegriffen. Dieser erste Gewalteinsatz machte den Protest zu einer Massenbewegung mit eindeutig regierungsfeindlichen und nicht nur Pro-EU-Parolen. Von Anfang an hat der Maidan versucht, nicht nur die Notwendigkeit für ein Programm für Reformen sondern auch die Notwendigkeit für eine neue sozio-politische Kraft zu formulieren.

Also, was genau war der Maidan? Wie können wir das Phänomen der Selbstorganisation erklären? Welche historischen Metaphern können seine Natur beschreiben? Möglicherweise ist die beliebteste Metapher die der Saporoger Sitsch, auch wenn das nicht ganz unanfechtbar ist. Diese bezieht sich auf das frühmoderne politische Phänomen einer Kosaken-Selbstverwaltung, die im Zuge der russischen Absolutismus am Ende des 18. Jahrhunderts beendet wurde.

Während die meisten Maidan-Teilnehmer in aufgebauten Zelten im Zentrum von Kyiw lebten, wurden die überfüllten wöchentlichen Sonntags-Volksversammlungen (bis zu einer Million Menschen im Zentrum von Kyiw) von gebildeten, unternehmungslustigen und gut situierten Menschen mittleren Alters besucht, die ihre Hoffnungen auf Veränderung mit einem lose definierten Begriff der Europäisierung verwoben.

Die pro-europäische Rhetorik des Maidan gründete sich auf die Mythologie von Europa als einen  Raum der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der Bewegungsfreiheit [Reisefreiheit] und der Freiheit auf Meinungsäußerung; vergleichbar mit den positiven Vorstellungen von Europa, wie sie in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes und den baltischen Staaten vor ihrem Beitritt zur EU vorherrschten. Diese Mythologie von Europa übertrifft nicht nur den Inhalt des ausgefallenen Assoziierungsabkommens bei weitem sondern auch den tatsächlichen Zustand der Europäischen Union, die nach wie vor für viele Nachbarstaaten sehr attraktiv ist. Die europäische Mythologie des Maidan erwies sich im ganzen Land als starke Mobilisierungskraft für den aktivsten Teil der ukrainischen Bevölkerung.

Der Maidan kann somit als temporärer Raum einer konfliktfreien Kooperation und Koexistenz von Menschen aus sehr unterschiedlichen sozialen Kreisen beschrieben werden. Ohne einheitliche politische Führung erschuf die ukrainische Zivilgesellschaft eine komplizierte Struktur der sozialen Interaktion. Die Menschen auf dem Maidan waren nicht nur in ihrer Ablehnung des Regimes von Wiktor Janukowytsch sondern auch der post-sowjetischen politischen und wirtschaftlichen Lage der Ukraine im Allgemeinen einig.

Die pro-europäische Rhetorik des Maidan wurde in eine komplexe Wechselbeziehung mit dem Nationalismus gesetzt. Auf der einen Seite hat der Maidan nationalistische Parolen (wie “Ruhm den Helden, Ehre sei Ukraine”) und Fahnen (wie die schwarz-rote Fahne der Nationalisten der überwiegend anti-sowjetischen Untergrundbewegung der 1940/50er Jahre) als Symbole eines pro-europäischen Protests legitimiert. Auf der anderen Seite erlebten diese Symbole eine Transformation auf dem Maidan und bekamen einen breiteren patriotischen Sinn.

Das bedeutet natürlich nicht, dass es in der politische Szene in der Ukraine oder in anderen Ländern keine rechtsgerichteten und fremdenfeindlichen Akteure gibt. Aber es muss auch betont werden, dass derartige Stimmungen und Haltungen auf dem Maidan zu keinem Zeitpunkt eine entscheidende Rolle gespielt haben. Im Gegenteil, eines der interessanten sozialen Phänomene, die aus der Eurorevolution hervorgingen, ist die Legitimierung der russischen Sprache, neben der ukrainischen, als Sprache der Revolution und der europafreundlichen Haltung.

Um die Natur der Euromaidan zu verstehen, sollten wir die Fähigkeit der Ukraine zur Vermeidung von Massengewalt bei der Lösung politischer Konflikte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 im Auge behalten. In der postsowjetischen Geschichte des Landes gab es keine vom Parlament veranlassten Hinrichtungen, kein Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, keine Pogrome. Sowohl die Gesellschaft als auch die politischen Eliten haben bei der Suche nach friedlichen Lösungen in jeder Art von Krise ihren Widerstand gegen Gewaltszenarien gezeigt.

Der fehlende einheitliche öffentliche Konsens der Nation zu Fragen der Erinnerung oder zu Sprachproblemen war oft nicht so sehr ein Antrieb für die Teilung, sondern vielmehr ein stabilisierender Faktor in einem Staat, der durch so viel Vielfalt gekennzeichnet ist. Diese bestehende Vieldeutigkeit war eher eine Möglichkeit zur Vermeidung sozialer Konflikte und ein Hindernis für die Monopolisierung des öffentlichen Raums zugunsten der einen oder anderen politischen Kraft.

Bis zum 22. Januar 2014 war bei Massenprotesten und Demonstrationen niemand getötet worden. Die gewalttätige Agonie des Janukowytsch-Regimes und die russische Intervention in den östlichen Teilen des Landes hat die ukrainische Tradition der gewaltfreien Lösung politischer Probleme auf drastische Weise zunichte gemacht und den unverwechselbaren Pluralismus des öffentlichen Raums der postsowjetischen Ukraine in Frage gestellt. Zunächst wurden fast 100 Menschen auf dem Maidan erschossen. Und dann starben Tausende von Soldaten und Zivilisten in der östlichen Region des Donbas.

Anscheinend hat Wladimir Putin die Natur der ukrainisch-russischen Sprache und des kulturellen Zusammenlebens in der Ukraine falsch interpretiert, indem er glaubte, Russisch zu sprechen bedeute automatisch eine politische Loyalität zu seinem Projekt von “Neurussland”.

Und gleichzeitig intensivierte die russische Intervention und der anhaltende Krieg die Bildung der ukrainischen politischen Nation und bewies, dass die regelmäßig wiederholten Theorien über die Nicht-Existenz der Ukraine als kulturelle Einheit die zeitgenössische Ukraine als eine Entsprechung wie im Falle der Tschechoslowakei falsch beschreibt, die friedlich in zwei Teile (oder mehr) gespalten konnte.

Anstelle der unrealistischen und zwangsläufig gewalttätigen Szenarien  der “Aufteilung” verdient die Ukraine die eine volle Anerkennung ihrer Hybridität als autonomes, komplexes Subjekt. Was von Nöten ist, ist die Neukonzipierung der Vielfalt des Landes als sein größter Schatz und eine Möglichkeit der Erhaltung des Pluralismus und der Ambivalenz als Voraussetzung von Freiheit und Demokratie.

Dr. Andrij Portnow ist Historiker und Essayist aus Dnipropetrowsk und Kyiw, derzeit Gastprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin, Gründer und Mitherausgeber der Intellektuellen-Website Historians.in.ua.

Quelle: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/what-exactly-was-the-maidan

Übersetzung: Klaus H. Walter und Übersetzerteam Euromaidan Press auf Deutsch

 

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