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Strategiewechsel in “Neurussland” – Oliver Carroll berichtet aus dem Donbas

Article by: Oliver Carroll

Oliver Carroll, freier Journalist (zuvor Herausgeber von Esquire Russland und Redakteur bei OpenDemocracy):

“Jeder Akteur hier in ‘Neurussland’ wird Ihnen etwas anderes erzählen, aber so sehe ich die Sache:

1. Die militärischen Kräfte sind klar entlang folgender Linien geteilt: Das “Wir kämpfen für eine Idee”-Lager gegen die “Unterstützer der verräterischen Minsker Vereinbarung”, bzw. der “pragmatische” gegen den “emotionalen” Flügel (je nach Perspektive)

2. Für das pragmatische Lager ist es am wichtigsten, die Wirtschaft wieder auf die Beine zu stellen, Kriegsschäden zu reparieren und Renten zu bezahlen, bevor man sich der nächsten Offensive widmet. Das “Für die Idee”-Lager wiederum sieht in dem Waffenstillstand einen Deckmantel für wirtschaftliche Interessen.

3. Alle teilen den Glauben, dass die jetzigen Grenzen der DVR / LNR [der separatistischen “Volksrepubliken”] nicht ausreichen, aber haben unterschiedliche Ansichten darüber, wann die Expansion stattfinden soll. Es gibt darüber ziemlich viele interne Kämpfe, auch aus persönlichen und wirtschaftlichen Motiven.

4. Die russische Einmischung in Donezk und Luhansk wird vorübergehend runtergefahren. Borodai [der ehemalige Premierminister der Donezker Volksrepublik, ein russischer Staatsbürger] hat vorbeigeschaut, und er ist immer noch ein Mann mit Autorität, aber es sind nicht viele andere Berater in der Gegend. Der Konsens ist, dass dies geschieht, um die lokalen Strukturen zu legitimieren.

5. Wohngebiete, die starkem Granatenbeschuss ausgesetzt waren, haben sich verstärkt gegen Kyiw gewandt (was wenig überrascht). Es gab viele Fälle von ungenauem Beschuss in Wohngebieten, allerdings nur wenige Indizien dafür, dass dies absichtlich geschah. In den meisten Fällen findet man Hinweise darauf, dass sich in der Nähe militärische Stellungen befanden. Aber der Beschuss war so ungenau, dass er in der Nähe von Häusern kaum gut gehen konnte, und die Ukraine wird sich dafür verantworten müssen.

6. In der Gegend gibt es wenige, die sich offen für Kyiw aussprechen. Das liegt einerseits daran, dass die meisten von ihnen geflohen sind, weil sie in einem deutlich totalitären und intoleranten Staat um ihr Leben fürchten. Auf der anderen Seite wird man unter Raketenbeschuss (egal, ob dieser gerechtfertigt war oder nicht), kaum Sympathien für denjenigen aufbringen können, der für diesen Beschuss verantwortlich gemacht wird.

7. Ein Fallstrick ist, dass die meisten vor allem durch den nächsten Winter kommen wollen, der sich schnell nähert. Wenn “Neurussland” nicht in der Lage sein wird, sich um seine Leute zu kümmern, dann wird sich die Stimmung sehr radikal gegen es drehen. Erst gestern hat eine Gruppe von Pensionären vor dem Hauptquartier der DVR [Donezker Volksrepublik] demonstriert, wegen einer ganzen Palette von sozialen und politischen Beweggründen.

8. Die DVR spielt ein außergewöhnliches Spiel, indem sie Jagd auf Betrunkene und Plünderer macht. Wie eine Machoversion von Harvey Milk und der Hundekot [ein US-amerikanischer Politiker, der in den 70ern eine öffentliche Kampagne gegen Hundekot in Parks führte] – aber erzählen Sie ihnen nur nicht, dass er schwul war!

Was die Nachrichten aus Kyiw und Charkiw angeht (Demos, Antidemos und Gewalt) – ich bin nicht dort, also kann ich das nicht so sehr beurteilen. Aber es sollte sich niemand darüber wundern, dass die Nationalgarde auf die Straße geht, oder dass “Ukrainische Faschisten” aufgetaucht sind. Die Nationalgarde war immer schon ein schwaches Glied in der Kette der ukrainischen Militäroperation – in ihr sind viele versammelt, die vorher an der Niederschlagung des Maidan beteiligt waren (Anmerkung: die Nationalgarde ist nicht das gleiche wie die Armee oder die Freiwilligenbataillone). “Faschisten” wiederum scheinen im ukrainischen Politikzyklus immer zu opportunen Zeitpunkten aufzutauchen. Obwohl nationalistische Idioten zu Demos wie die Fliegen zum Dermo [rus. für Kot] fliegen, wäre es töricht zu glauben, dass hier keine Organisatoren am Werk waren.

Aber das Ganze passt sehr gut zu dem, was ich aus meinen Interviews hier in Donezk und Luhansk heraushöre, also dem schrittweisen Übergang zur Strategie einer “5. Kolonne” in der Kernukraine. Meine Vermutung ist, dass die aggressiveren der separatistischen Kräfte hier und da an der Frontlinie Vorstöße machen werden, ohne aber dafür wesentliche Unterstützung aus Russland zu erhalten – deswegen werden diese auch nicht besonders erfolgreich sein. Die Ukrainer haben sich entlang der Grenze in starken Stellungen eingegraben.

Was ist also die russische Strategie in meinen Augen? Die DVR und LVR köcheln zu lassen, während man sich der Hauptsache widmet: Kyiw im Druckkochtopf weich zubekommen.

Wer stimmt mir zu?”

Übersetzung aus dem Englischen durch die Berliner Osteuropa-Experten

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