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Strelkow-Girkin: Interview Teil 2 „Wir marschierten siebzehn Kilometer über die Grenze“

Interview mit Igor Girkin alias Strelkow in Svpressa.ua, publiziert am 11.11.2014 (Teil 2 von 2 – Teil 1 hier):

Igor Strelkow (IS) beantwortet Fragen. Das Gespräch führte Sergei Schargunow (SC).

Deutsche Übersetzung: Alexander Kaufman (AK)

 

SC: Also wurde Slowjansk zu einem zentralen Punkt?

IS: Slowjansk wurde zum Ausgangspunkt für die Verbreitung der Volksmacht auf dem Territorium der Republik [AK: der sogenannten Volksrepublik]. Wir genossen die Unterstützung der Bevölkerung. Die Mehrheit hat uns offen ihre Sympathie gezeigt. Die Leute haben jedoch vermutet, wir seien die sogenannten „Grünen Männchen“, denn wir alle trugen dieselbe Uniform, waren ungefähr gleich bewaffnet und gut genug ausgerüstet – auf eigene Rechnung, versteht sich. Und die Leute haben uns mit großer Freude empfangen. Sie waren der Meinung, das Krim-Szenario würde sich wiederholen.

SC: Moskau hat sie dorthin nicht geschickt?

IS: Natürlich nicht.

SC: Welche Größe hat die Slowjansker Armee erreicht und innerhalb welcher Zeit?

IS: Bis zum Verlassen von Slowjansk waren es in der Stadt tausendzweihundert Bajonette [AK: so nennt IS bewaffnete Aufständische] und dazu noch drei- bis vierhundert Soldaten, aber Etappensoldaten [AK: Angehöriger der rückwärtigen Dienste], weil wir viele jungen Leute hatten, viele Frauen, viele Ältere, die nicht in den Schützengraben Dienst leisten konnten. Konnten also an den aktiven Kämpfen nicht teilnehmen. Zu der Zeit waren ungefähr vierhundert Kämpfer in Kramatorsk. Der Kramatorsker Garnison stand unter unserem Kommando. Ungefähr fünfhundert Mann in Druzhkowka. Und ungefähr ein Hundert in Konstantinowka. Auf der Strecke nach Nikolajew und Jampol gab es einen Bataillon, hier ungefähr zweihundert Mann. Also waren es insgesamt mehr als zweitausend Kämpfer. Und als ich Donetzk verlassen habe, zählte die Slowjansker Brigade zusammen mit den angeschlossenen Einheiten fünf- bis fünfeinhalb Tausend Mann. Es waren sogar fast zehntausend gemäß den Listen, aber nicht wenige rückwärtige Einheiten, humanitäre oder zuständige für die Beschaffung. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass alles Ad hoc organisiert war, unter den Bedingungen der Abwesenheit von Spezialisten und der Basis, war es sehr kompliziert, vernünftige Erfassung der Leute zu gewährleisten. Ich wusste jedoch die Anzahl in meinen Kampfbataillonen sehr genau.

SC: Wie hoch ist die Prozentzahl der Leute aus der Region unter den Rebellen?

IS: Neunzig Prozent. So war es, so ist es geblieben. Angenommen, in der Slowjansker Brigade war die Anzahl der Russen sehr gering. Alle, die zu uns kommen wollten, haben wir auf deren Weg abgefangen. Bolotow in Luhansk schnappte sich jemanden, Hodakowski nahm jemanden zu sich, jemanden Sachartschenko. Ich denke, ich hätte an deren Stelle das Gleiche gemacht. Sie verstärkten dadurch ihre Einheiten. Slowjansk war in Warteposition. Hinzu kommt, dass ab dem 2. Mai beginnend Slowjansk schon halb eingekreist war. Jede Woche wurde dieser Halbkreis enger, und Ende Juni waren wir komplett eingekesselt, so dass wir durch eine einzige Straße versorgt werden konnten, die nach dem Fallen von Nikolaewka auch abgeschnitten war.

SC: Haben die Kräfte nicht ausgereicht?

IS: Stellen Sie sich eine eingekesselte Stadt vor, wo es an allem mangelt. Es mangelt an Waffen, an Munition. Wo die riesige Menge Leute auf den Barrikaden steht, einfach waffenlos oder mit Jagdgewehren. Eine große Stadt, viele Einwohner. Von allen Seiten durch den Feind umringt, und der Feind ist in Überzahl – und das mehrfach. Dabei ist die Stadt das Zentrum des Aufstandes; uns untersteht die ganze Reihe anderer Städte, die noch schwächer aufgestellt sind. Jeder Soldat zählt. Jede Hryvnja zählt. Jede Kiste Munition. Jeder Lastwagen. Jeder Benzinkanister. Es mangelt an allem. Und zu allererst mangelt es an Menschen, an Organisatoren.

SC: Verfügen Sie über die Informationen, wie die aktuelle Situation in Slowjansk ist?

IS: Mir ist es bekannt, dass bei der letzten Wahl der Rada die Teilnahme sehr niedrig war.

SC: Das Erschießen der Plünderer – haben diese Leute das verdient?

IS: Das Erschießen von  Leuten, die es nicht verdient haben, während der Kriegszeit, kann nur ein Verrückter befürworten. Es ist bequem, sich als Verrücktern darzustellen. Insbesondere weil auch der Lebenslauf das vielleicht begünstigt. Ich bin sehr vorsichtig mit den Menschenleben umgegangen – das betrifft sowohl die Aufständischen als auch die Örtlichen; also alle… Aber unter Kriegsbedingungen, wenn die Stadt umzingelt  ist, bedeutet das Zeigen von Pseudohumanismus die Vermehrung der Opfer. Eine Schwäche zu zeigen, kann manchmal bedeuten, einem Verbrecher das Gefühl zu geben, es gebe Straflosigkeit. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war irgendwie gesetzeskonform zu handeln. Und die Gesetzeskonformität im Krieg, in den Bedingungen des Gesetzesbruchs, ist äußerst problematisch. Weil weder die Gesetze der Ukraine noch die Gesetze Russlands den Begriff „Militärische Belagerung“ [AK: Kriegszustand] vorsehen, musste ich mich an die Verordnung des Komitees der Verteidigung vom 22. Juni 1941 „Über die Herstellung der Kriegstribunale“ halten. Bei uns haben alle Gerichtssitzungen nach Entscheidung des  Kriegstribunals stattgefunden. Nicht alle Urteilssprüche waren auch Schuldsprüche – es gab Präzedenzfälle, bei denen die Beschuldigten freigelassen wurden. Aber wir haben tatsächlich mehrere Plünderer erschossen. Oder es gab auch die Episode, als ein Mitglied des Rechten Sektors hingerichtet wurde – weil er einen Aufständischen auf der Barrikade mit einem Messer getötet hat. Er kam extra nach Kramatorsk, um den Mord eines Separatisten auszuführen – wie er meinte, einen Moskal. Er wurde danach gefangen. Und zum Tode verurteilt.

SC: Wie human sind Sie mit den Kriegsgefangenen in Slowjansk umgegangen?

IS: Wir gaben den Kriegsgefangenen, die bei uns einsaßen, dasselbe Essen, was unsere Kämpfer gegessen haben. Ich konnte natürlich nicht alles selber unter Kontrolle haben, jedoch weiß ich  genau, dass niemand vor Hunger verstorben war und dass niemand aufgrund der Krankheiten verstorben war. Niemand war ohne das Gericht hingerichtet. Es wurden mehrere Diversionsgruppen vernichtet.

Das passierte jedoch während der Kriegshandlungen und ich habe keinen Zweifel daran, dass das gerechtfertigt war.

SC: Sie wissen, dass jetzt, im Krieg jetzt das Leben im Donbas kriminalisiert worden ist. Wie haben Sie es geschafft, das Banditentum in Slowjansk zu bekämpfen?

IS: In Slowjansk – ja. In Donezk hatte ich dafür viel zu wenig Zeit; und außerdem es existierten mehrere Kraftzentren, die nicht unter meinem Kommando standen, oder die unter den besonderen Bedingungen mir unterstanden. Deswegen ist es mir nicht gelungen, in Donezk eine solche Ordnung zu schaffen, die ich in Slowjansk und Kramatorsk hatte.

SC: Wie soll mit Verwirrung und Ratlosigkeit der Leute umgegangen werden? Sie befinden sich in einem Albtraum.

IS: Ordnung ist notwendig. Alle Staaten, die Kriege fuhren – inklusive der demokratischen Staaten – haben immer in der Zone der Kriegshandlungen das Kriegsrecht eingeführt. Um die Ordnung zu schaffen und die Verwaltbarkeit zu gewährleisten, ist es notwendig, die einheitlichen gemeinsamen Kriegsgesetze für beide Republiken [AK: die sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken] auszuarbeiten, weil es zwischen der Republiken kein Meer gibt. Und was die Stimmung der Bevölkerung angeht – hier hängt alles nicht mal von den örtlichen Leadern ab, sondern unmittelbar von Russland. Der Donbas braucht schnellstmöglich umfassende Hilfe. Russland ist einfach verpflichtet, ausgehend von den Traditionen, von der Pflicht den russischen Menschen gegenüber, die aufgrund der Verrats des Jahres 1991 getrennt wurden, diese Hilfe zu leisten. Dort kämpfen die Leute für Russland. Russland soll seine Leute beschützen. Sonst ist Russland als Staat verloren.

SC: Sind Sie besorgt, dass das Krim-Szenario nicht stattfindet? Fühlen Sie Ihre Zuständigkeit?

IS: Natürlich, ich fühle mich im vollen Maße dafür zuständig, was ich getan habe. Deswegen versuche ich, den Aufständischen und den Republiken zu helfen. Weil ich meine Rolle an allem verstehe. Aber ich habe keine Schuldgefühle. Ich habe meine Pflicht, so wie ichsie gesehen habe, erfüllt. Und trotz manchen Fehlern, finde ich, ich habe ihn erfüllt. Und die Sabotage seitens einer Reihe der Staatsbeamten – das ist eine ganz andere Frage. Das ist mehr deren Schuld, nicht meine.

SC: Ich habe Ihre Gedichte und Ihre Prosa gelesen. Gibt es einen Einfluss von Nikolaj Gumiljow?

IS: Wissen Sie, ich habe Gumiljows Gedichte gerne gelesen. Mehr als das: In meiner Jugend habe ich ein Gedicht in Anlehnung an Gumiljow geschrieben. Jedoch bin ich von seiner unerschwinglichen nichtchristlichen Mystik ziemlich fern. Aber im Allgemeinen gefällt er mir. Einer der besten Dichter der silbernen Zeit, meiner Meinung nach…

SC: Sie haben sicherlich die Bücher gelesen, die in Verbindung mit dem Bürgerkrieg im Süden Russlands, im Donbas stehen…  Wie „Drozdowtsi unter Feuer“ von Anton Turkul. Mit welchen  Gefühlen sind Sie in dieses Land gekommen? Hatten Sie historische Anklänge verspürt?

IS: Ja, natürlich. Ich habe ja nicht nur die Erinnerungen und Memoiren gelesen. Ich habe mit den Dokumenten der Roten und der Weißen Einheiten, die auf diesem Territorium gekämpft haben, gearbeitet. Wolnowacha hat sich bei mir mit dem Angriff Wrangells im Nördlichen Taurien assoziiert.

Genau mit dem, an dem die Drosdowzi teilgenommen haben. Und auch Mariupol… Es waren sehr viele Parallelen mit dem Jahr 1919. Der ganze Gebiet war die Zone der Kämpfe der Armee von  Nestor Machno. Natürlich, habe ich mich an die harten Kämpfe der Jahre 1918-1919 erinnert, bei  denen Donbas mal die einen eingenommen haben, mal die anderen. Übrigens, die Frage, die für mich noch nicht beantwortet wurde: was war die Slowjansker Einheit in der Armee von Slaschew; die Einheit, die gemäß Slaschew aus 100 Soldaten bestand, während des Rückzuges auf die Krim. Ob der Name in irgendeiner Verbindung mit dem Namen der Stadt steht.

SC: Welches Machtsystem ist Ihnen am liebsten?

IS: Wissen Sie, in meinem Wertesystem gibt es einen nirgendwo in der Praxis realisierten Begriff; möglicherweise ist das nur ein ideologisches Gebilde – „Meritokratie“. Die Macht der Verdienste [AK: Alternative Übersetzung: Die Macht der Güte]. Um einen Anspruch auf die Macht erheben zu dürfen, muss man Verdienste dem Volk, dem Staat gegenüber vorweisen können. Wobei die Verdienste, die Erfolge real sein müssen, und nicht imaginär. Und bei uns gibt es statt des Tuns nur Imitationen. Viel zu viele sind durch Zufall an die Macht gekommen; nicht dank des Tuns, sondern dank des Zufalls; irgendwo sind sie entfernte Verwandte dritten Grades, oder haben einfach Geld bekommen und für dieses Geld für sich die Macht gekauft… Jetzt, so wie auch in den späteren sowjetischen Zeiten, alles passiert gemäß dem Parkinson-Gesetz: schlechter, schlechter und schlechter. Das Filtersystem funktioniert umgekehrt. Idealerweise sollte dieses System nur die besten, die fähigsten durchlassen… Aber wenn man sich unsere Politiker anschaut, kann man feststellen, dass es grauer, talentloser und hinterlistiger vielleicht nicht mehr möglich ist.

Wir haben einen handlungsfähigen Führer unseres Staates und eine verfaulte, zum großen Teil unfähige Elite. Was unter Friedensbedingungen akzeptabel ist, ist absolut inakzeptabel in Kriegszeiten. Und einen Krieg hat man Russland erklärt. Und Noworossija – ist nur eine der Fronten.

Und der Krieg wird durch die Gasabkommen nicht beendet. Was gerade in Noworossija abläuft, erinnert mich eins zu eins an die Situation in der Republik Serbische Krajina in den Jahren 1993-1994.

Jeder, der nur etwas darüber weiß, wie und was dort abgelaufen ist, und in der Hauptsache – danach, wird mich bestens verstehen.

Quelle: Svpressa.ua, publiziert am 11.11.2014

Übersetzung: Alexander Kaufman

Redaktion: Euromaidan Press auf Deutsch

 

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